Название: Die sehende Sintiza
Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783898018890
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Buchela riecht das gegerbte Leder eines Schusters, der Taschen anbietet, und betrachtet ein paar Schulranzen. So etwas Schönes hätte sie auch gern einmal für ihre Tafel, statt sie in einer Zeitung tragen zu müssen. Dann fällt ihr Blick auf eine Frau, die auf dem Boden sitzt. Vor ihr liegen ein paar kurze Stücke Spitze. Sonst nichts. Die Frau hält die Hand ausgestreckt, als hoffe sie, ein Almosen zu bekommen. Um die Schultern hat sie sich eine Decke geschlungen. Unter einem bunten Tuch, das um den Kopf gebunden ist, fallen schwarze Haare auf den Rücken. Der Kopf ist vornüber gesunken. Auf dem Tuch sind gelbe und rote Rosen gedruckt und in der Mitte jeder Blüte ist ein kleiner Spiegel aufgenäht. Buchela bleibt wie angewurzelt stehen.
»Was stehst du hier im Weg. Sieh zu, dass du weiter kommst.« Sie wird von einem Mann angerempelt und tritt eilig zur Seite.
Dann geht sie einen Schritt vor, beugt sich herunter und legt ihre Hand in die Hand der Frau. Die richtet sich auf und schaut dem Mädchen ins Gesicht.
»Buchela!« Die Frau hat Ränder um die Augen. Sie sieht trotz ihrer dunklen Hautfarbe grau und müde aus. Buchela umarmt stürmisch ihre Mama. Dann hockt sie sich neben sie, so dass ihr Körper die Mutter berührt.
»Gamli Daj. Dass du mir eins meiner Kinder zeigst!« Die Mutter weint.
Buchela fährt ihr mit der Hand über den Rücken. »Die ganze Familie. Anton. Engelsüßchen. Dotla. Rafflo. Und der Vater! Und du. Alle weg. Nur mich haben sie laufen lassen, allein. Aber was bin ich so?« Weinen schüttelt den Körper der Mutter.
»Nicht mal der Wagen da. Was für’n Wagen?, sagen sie zu mir. Der Wagen meiner Familie, sag ich. Der mit den Schnitzereien über den Fenstern. Der mit der roten Gardine am Eingang. Der mit Debleskri Daj in der hinteren Ecke. Unser Wagen eben. Ich bin hingegangen. Immer wieder. Am Ende haben sie gesagt: Du brauchst nicht mehr kommen! Ob die Gadsche damit Feuer gemacht haben? Ich weiß nicht. Ob sie ihn verkauft haben?« Mama beugt sich zu Buchela. »Jetzt hab ich dich wenigstens! Musst du meine ganze Familie sein!« Sie schnäuzt sich ausgiebig und grinst dann schief.
»Und dann hab ich Glück«, fährt sie fort. »Ein bisschen. Ich komm über die Felder über die Landstraße, da sehe ich Wagen stehen. Und als ich näher bin, denk ich, das muss der Wagen von Josef sein, von meim Bruder. Und er war’s.«
Die Hand der Frau streicht über die Spitzenstücke.
»Schau, das verkauf ich. Aber es reicht nie nicht. Keine ordentliche Ware, kein ordentliches Geld. Und der Gadscho schenkt nichts!« Die Mutter seufzt. »Wenn ich bloß deinen Tatta wiederfände!«
Sie wischt sich die Nase an der Innenseite des Ärmels.
»Und du, mein Mädchen?« Buchela zuckt die Schultern.
»Die Schwestern sind gut«, sagt sie. »Es gibt genug Essen.« Die Mutter nickt.
»Und ich lerne lesen, schreiben und rechnen.«
Da schnauft die Mutter verächtlich. »Das brauchst du nie nicht! Du brauchst deine Mama und deinen Tatta und deine Geschwister.«
»Ich kümmere mich auch um kleine Kinder«, ergänzt Buchela, als wolle sie der Mutter sagen, dass sie auch etwas Sinnvolles tut.
Wieder schnauft die Mutter.
»Wir haben Kinder genug. Da kannst du dich kümmern! Was sollen die bei Fremden! Und du auch.«
Die Hand der Mutter klopft nun unruhig auf ihren Rock.
»Wie leicht das wär, wenn du für mich zu den Gadsche gingst! Du musst zu mir Buchela! Du bist deiner Mutter ihr Brot. Komm, lass uns gehen, sofort.«
»Mama«, zögert Buchela. »Ich muss zu den Kindern. Die schreien vor Hunger.«
»Du lässt deine Mutter allein. Wegen fremde Kinder?«
»Mama, Schwester Fidelis darf nicht sehen, dass ich noch hier bin, sonst werde ich bestraft.«
»Dann geh doch, wenn andere wichtiger sind.« Die Mutter weint wieder.
Dann aber strafft sich ihr Körper.
»Ich hol dich raus, Buchela. Wirst sehen, wir werden eine ordentliche Familie. Spätestens dein Geburtstag feiern wir alle zusammen. Dass mir die Augen rauskommen, wenn das nicht stimmt.«
Sie drückt Buchela zur Bekräftigung fest die Hand.
»Und morgen besuch ich dich.«
Die Mutter küsst sie auf beide Wangen. Dann greift sie nach einem der kurzen Spitzenstreifen. »Hier, nimm. Dass du immer an deine Mama denkst.«
Das Mädchen betrachtet das Stückchen Spitze in seiner Hand. Dann steht es auf und wirft einen ängstlichen Blick über den Markt, ehe es losläuft. An der Ecke dreht es sich noch einmal um und winkt der Mutter.
10.
Buchelas Hand umkrampft das Spitzenstück in der Schürzentasche. Hat Mama nicht gesagt, sie kommt am nächsten Tag? Das Wochenende verstreicht Stunde um Stunde. Und wenn Oberin Lucinda sie abgewiesen hat, nur weil der offizielle Besuchstag der Sonntag ist?
Hätte Buchela nur nicht vergessen zu sagen, dass Mama sonntags kommen muss!
Und wenn irgendetwas anderes geschehen ist?
Für Sinti gibt es immer Schwierigkeiten: mit Behörden, mit Geld, mit dem Wagen. Die Gedanken laufen unruhig wie Mäuse im Kopf herum und lassen ihr keine Ruhe. Schließlich nisten sie sich in einem Nest aus Sorge ein.
Ein Woche lang trägt Buchela die Spitze in ihrer Schürzentasche, dann legt sie sie in ihre Kiste mit den Habseligkeiten und schließt den Deckel darüber.
Der Winter bricht herein mit eisiger Kälte, dass die Münder mit weißen Schwaden rauchen beim Ausatmen. An einem dieser kalten Wochentage kommt es auf dem Schulhof zu einer Schlägerei. Der Sohn vom Bäcker Lembert hat die Waisenhäusler Kitschesbrüder genannt und den Karl einen Bankert, der nicht mal weiß, von wem ihn seine Mutter hat. Wenn er überhaupt eine Mutter hat. Das ist der Funke, der die aufgestaute Wut auf beiden Seiten in eine riesige Keilerei verwandelt, erst Püffe, dann Tritte und Ringen, schließlich erbarmungslose Faustschläge. Sauerwein steht hilflos dabei. Erst das Auftauchen der Polizei und einiger anderer Männer, beendet die Schlägerei. Keiner der Jungen ist ohne Blessuren davon gekommen. Mancher hat ein blaues Auge, der Sohn vom Bäcker Lembert gar einen gebrochenen Zeigefinger. Der weitere Unterricht fällt an diesem Morgen aus.
Tags drauf darf keiner aus dem Waisenhaus zur Schule. Kein Mittagessen, keine freie Zeit, von früh bis zum Dunkelwerden Pantoffelnausstopfen. Abends tritt die Oberin schließlich in den Speisesaal. So weit ist es gekommen, sagt sie, dass die Bürger der Stadt sich um ihre Kinder wegen der Waisenhäusler sorgen. Der Stadtrat hat beschlossen, dass ihre Unterrichtung nur noch im Kloster zulässig ist. Alle sollen gewarnt sein. Jeder kleine Verstoß gegen die Vorschriften werde nun geahndet. Man werde schärfer als bisher durchgreifen.
Wenige Wochen nach der Schlägerei treffen im Kloster der Borromäerinnen zwei Lehrer und eine Lehrerin ein und unterrichten vorerst im Esssaal und in Kellerräumen. Seit sie in die Klasse der neuen Lehrerin geht, stehen Buchelas Buchstaben in einer Reihe und neigen sich mit schönen Schnörkeln leicht nach rechts. Buchela lernt schnell, kratzt nicht mehr nur mit dem Griffel СКАЧАТЬ