Название: Die sehende Sintiza
Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783898018890
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Der Priester hebt ein Goldgefäß über seinen Kopf. Er knickst. Dann zeigt er allen ein rundes Plättchen. Wieder knickst er. Er bricht das Plättchen, steckt es sich in den Mund und kaut. Dann dreht er sich um und kommt mit einem goldenen Gefäß die Altarstufen herunter. Die Kinder stehen auf und gehen in einer langen Reihe nach vorn. Schwester Benedicta zieht Buchela am Ärmel. »Du nicht! Setz dich wieder in die Bank.« Buchela sieht sie verständnislos an, fügt sich aber. Sie sieht, wie Änne sich am Altar hinkniet und ihre Zunge herausstreckt und etwas darauf gelegt bekommt. Änne rutscht in die Bank zurück, schließt die Augen und ist ganz weit weg. So weit weg will Buchela auch sein und schließt ebenfalls ihre Augen.
Nach dem Gottesdienst gehen sie in Zweierreihen in den Speisesaal. Es gibt trockenes Brot und Pfefferminztee, der in den großen Blechkannen bereits lauwarm geworden ist. Buchela wundert sich, wie das Wasser erhitzt wird, nirgends sieht sie ein offenes Feuer. Und wer hat überhaupt die Pfefferminze gesammelt?
Schweigend nehmen sie das Frühstück ein.
Erst auf dem Weg zur Schule rennen, hüpfen, lärmen die Mädchen und Jungen. Sie entschlüpfen dem Kloster wie junge Hunde dem Zwinger, kaum, dass die Tür einen Spalt breit geöffnet ist. Buchela geht in ihren großen Schuhen neben Änne, die nur mühsam vorankommt.
»Warum durfte ich kein Plättchen?«, fragt Buchela ernst.
»Welches Plättchen?«
»Das in der Kirche.«
Änne lacht. »Plättchen! Wenn das der Pastor hört. Das darf man nur, wenn man schon die Heilige Kommunion hatte!«
Buchela runzelt die Stirn.
»Die Heilige Kommunion ist, wenn man zum ersten Mal am Tisch des Herrn sitzen darf und ihn empfängt. Normalerweise geht man mit zehn. Wie alt bist du eigentlich?«
Buchela zuckt die Schultern.
»Aber du hast noch nie so was bekommen?«
Wieder zuckt Buchela die Schultern.
»Das musst du doch wissen!«
Buchela blickt zu Boden. Sie weiß gar nichts. Nein, sie kann sich an nichts dieser Art erinnern. Sie hat auch niemals gesehen, dass ihre Geschwister so was bekommen haben.
Änne legt ihr die Hand auf den Rücken. »Bestimmt bist du Ostern bei der Erstkommunion.«
Was immer diese Erstkommunion auch ist, Buchela will es auch dürfen.
5.
Das Rennen und Rufen, das Lachen und Schubsen dauert nur kurze Zeit, dann befindet sich Buchela gemeinsam mit fünfzig anderen Mädchen in einem dunklen Klassenraum. Es riecht nach Kreide und Muff. Der Lehrer sitzt an seinem erhöhten Katheder. Buchela bleibt unschlüssig an der Tür stehen und wartet, dass Sauerwein sie sieht.
Sauerwein ist ein älterer Mann mit lichten grauen Haaren. Ein Vollbart füllt das hagere Gesicht aus, so dass der schmale Mund, der als schräge Linie darin steht, fast verschwindet. Auf der leicht gebogenen großen Nase trägt er eine dunkle Schläfenbrille und liest in einem Buch, das vor ihm liegt. Der Kopf sitzt in leichter Schräge auf dem muskulösen Hals und hat nur wenig mehr Umfang als dieser. Ein Bussard, denkt Buchela. Wie ein Bussard sieht er aus.
Entweder er hat sie nicht bemerkt oder er lässt sie absichtlich warten. Endlich klappt er den Buchdeckel zu, putzt sich die Nase und rückt die Brille zurecht. Er blickt über die Klasse, wendet den Kopf Buchela zu und mustert sie eingehend vom Kopf bis zu den unförmigen Schuhen.
»Komm mal her.«
Das Mädchen nähert sich dem Podest. Es sieht in die hellbraunen Augen des Mannes, die mit seltsam gelben Sprenkeln durchsetzt sind und weiß, sie muss sich vor dem Mann in Acht nehmen.
»Wen haben wir denn da?« Buchela nimmt eine Mischung aus Bier- und säuerlichem Mundgeruch wahr. »Du bist wohl Zigeunerin, was?«
Buchela nickt.
»Was man uns so alles in die Schule schickt! Eins sag ich dir: Wenn hier irgendetwas wegkommt, dann setzt es was! Wie alt bist du denn?«
Buchela zuckt mit den Schultern und sieht im gleichen Moment, wie die Mädchen in der Reihe vorn breit grinsen.
»Wahrscheinlich hast du noch nie eine Schule von innen gesehen, was? Du setzt dich ganz nach hinten. Wahrscheinlich lernst du ja doch nichts.«
Buchela geht zu der ihr zugewiesenen Bank, rutscht hinein. Sauerwein beobachtet sie und schüttelt ausgiebig den Kopf.
»Dann zeigen wir dir erst mal, wie man ordentlich sitzt.« Der Lehrer erhebt sich, kommt langsam auf sie zu und spricht dazu umso schneller.
»Füße mit ganzer Sohle auf die Erde. Oberschenkel müssen auf der Bank sein. Kantensitzen ist verboten! Rücken gerade, Brust raus! Aber nicht an die Tischkante anlehnen. Kopf gerade, Schultern parallel zur Tischkante, der linke Vorderarm ganz, der rechte wenigstens mit der vorderen Hälfte auf der Tischplatte.«
Buchela ist verwirrt. Was soll sie zuerst tun? Sie weiß es nicht und bleibt unbewegt sitzen. Schallend lacht der Lehrer und als er nicht aufhört damit, nimmt die Klasse es als Signal, ausgelassen mitzulachen. Dann aber hält der Lehrer plötzlich inne und es wird still. Er stellt sich neben Buchela, beginnt mit seinen Anweisungen noch einmal von vorn und schiebt ihre Schultern in die richtige Position.
»Und jetzt die Tafel auf das Pult und den Griffel. Du malst die Tafel voll mit lauter Unterrockspitze und dann kommst du zu mir.«
Buchela schwitzt. Sie ahnt, dass der Lehrer zuhacken kann. Was für Unterrockspitze? Ihre Mama hat mehrere Röcke, die sie übereinander zieht. Aber Spitze? Spitzen gibt es nur an den Deckchen, die sie manchmal an den Türen verkauft.
Buchela gibt sich Mühe, wunderbare Muster auf die Tafel zu malen. In jede Reihe ein neues, mit großen und kleinen Schlaufen und Kreuzchen und Kringeln. Das Mädchen spürt, wie sich der Lehrer über sie beugt. Sein warmer, säuerlicher Atem berührt ihren Hals.
»Was ist das denn für ein Unsinn? Die ganze Tafel gleich! Schwungübungen sollst du machen!«
Buchela spuckt auf die Tafel und wischt schnell mit dem Ärmel alles weg, damit sie von Neuem beginnen kann.
Da bekommt sie einen kräftigen Schlag in den Nacken.
»Wir sind hier keine Zigeuner! Nimm dir dein Läppchen und befeuchte es am Wassertopf. Und dann putzt du die Tafel richtig sauber. Ohne Streifen.«
Seit diesem Vorfall heißt Buchela bei allen in der Schule die Sääwer2. Sobald der Name gerufen wird, grinsen die Kinder. Selbst der Lehrer nennt sie nicht beim Vornamen wie die anderen oder zumindest beim Nachnamen, wie er dies bei den Waisenhäuslern tut. Auch er spricht von der Sääwer. Und dafür hätte ihm das Mädchen am liebsten ins Gesicht gespuckt.
»Sääwer!«, rufen die Kinder auf dem Schulhof.
»Brich deinen Hals«, murmelt Buchela in Romanes. Aber das melden die anderen Sauerwein.
»Rotwelsch ist in der Schule verboten!«, sagt der. »Merk dir das. Erwische ich dich noch mal, dann setzt es was.«
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