Название: Die sehende Sintiza
Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783898018890
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Sie hört das Atmen der anderen Mädchen. In dieser Nacht ist da noch ein anderes, fremdes Geräusch, das sie wach hält. Sie schiebt die Decke zur Seite, steht vorsichtig aus dem Bett auf, tastet sich im Dunkeln quer durch den Raum. Sie erfühlt den Türrahmen, wandert mit der Hand zur Klinke, zieht die Tür vorsichtig auf und schlüpft in den Flur. Sie tastet sich im Dunkeln an der Flurwand entlang, horcht, bleibt stehen. Deutlich hört sie nun das Schreien des Säuglings. Ja, hier muss das Kind sein. Sie drückt sich in das Zimmer, stößt gegen ein Möbelstück. Das Kind schreit noch lauter. Sie lauscht, ob sich im Haus etwas rührt. Es bleibt still. Da beugt sie sich herunter und fährt mit der Hand über die Decke. Sie fühlt ein kleines Ärmchen und dann auch das andere. Sie spürt, wie das Kind alle Muskeln verkrampft. Kurz entschlossen hebt sie es an ihre Brust. »Sch, schsch«, versucht sie es zu beruhigen. »Wo ist denn deine Mama? Sch, schsch.« Unter ständigem Murmeln legt sie das Kind in ihren Arm, schaukelt es. Buchela ertastet mit der freien Hand das Mündchen und steckt ihren Zeigefinger hinein. Das Baby saugt. Hoffentlich ist es nicht zu hungrig, sonst wird es gleich um so lauter schreien. Sie wiegt das Kind und summt ganz leise. Buchela kann spüren, wie sich die Muskeln langsam entspannen und sich der Säugling auf ihrem Arm zu strecken scheint. Das Kind wird ruhiger. Es greift mit seiner kleinen Faust um ihren Finger und hält ihn ganz fest.
Irgendwann lockert sich der Griff und als der Arm des Säuglings nach unten rutscht, weiß Buchela, dass das Kind erschöpft eingeschlafen ist.
Ihre Augen haben sich an das Dunkel gewöhnt. Sie entdeckt einen Stuhl im schwachen Licht, das von draußen dringt, und setzt sich, um den schmerzenden Arm abstützen zu können.
Sie stellt sich vor, sie säße auf den Stufen ihres Wagens mit Engelsüßchen auf dem Arm. Zwischen den Wohnwagen knistert das Feuer. Tatta hat die Geige aus dem Wagen geholt und spielt. Eine Gitarre setzt ein. Der Körper des schlafenden Säuglings liegt warm auf Buchelas Bauch.
Als die Tür geöffnet wird, schreckt Buchela auf. Sie muss eingeschlafen sein. Im Rahmen steht Schwester Fidelis. »Was hast du hier zu suchen? Das hat ein Nachspiel!« Sie nimmt dem Mädchen heftig das Kind vom Arm. Sofort fängt der Säugling an zu schreien. Buchela springt von ihrem Stuhl auf, rennt in den Flur und zum Waschraum. Da stehen die anderen schon Schlange.
8.
Als der Morgen hinter ihr liegt und sie mit Änne zurück zum Waisenhaus geht, ist Buchela erleichtert. Sauerwein hat ihre Buchstaben auf der Tafel als liederliches Gekrakel bezeichnet. Was wolle man auch von Zigeunern erwarten. Die Sääwer würde nie lernen zu schreiben. Aber eine Strafe hat sie nicht bekommen. Sie fühlt sich müde und hungrig. In der Nacht hat sie kaum geschlafen, abgesehen von dem kurzen Einnicken gegen Morgen.
Während sie nun gemeinsam mit Änne die Pforte des Klosters passiert und in den dunklen Flur tritt, sieht Buchela, dass die Tür zum Zimmer der Oberin offen steht. Buchela macht sich neben Änne klein und blickt nicht auf. Schließlich rennt sie die steinerne Wendeltreppe wie vom Teufel gejagt nach oben.
Auf einfache Verstöße gegen die Hausordnung steht Essensentzug. Davor hat Buchela keine Angst. Es ist vorgekommen, dass ihnen Mama nichts gab. Wenn der Vater mit seiner Geige nicht aufspielen konnte, bekam er kein Geld und die Mutter kein Brot. Manchmal aßen sie Pilze, wenn die Jahreszeit danach war, oder Anton hat ein Kaninchen gefangen oder sogar einen Igel. Sonst gab es eben nichts.
Viel schlimmer ist im Waisenhaus das Stehen auf dem Schandfleck im Esssaal oder im Gottesdienst in der Nähe des Altars für alle sichtbar. Das Einsperren im dunklen Raum. In schwierigen Fällen rufen die Schwestern den Pfarrer dazu, der Schläge verabreicht.
Vorgestern musste ein Mädchen mit seinem nassen Betttuch auf dem Hof stehen, bis das Leinen getrocknet war. »Du hast nicht genug gebetet!«, hat Schwester Fidelis gesagt. »Sonst wäre das nicht wieder passiert.«
Gebetet wird viel: Am Morgen im Gottesdienst, zu jeder Mahlzeit, am Abend eine halbe Stunde. Vor dem Zubettgehen. Früher hat Buchela Obengt, den Teufel, nur im Brunnen gesehen, jetzt lauert er in allen Ecken. Er versucht sich der Kinderseelen zu bemächtigen, die nicht gottesfürchtig genug sind, sagt Schwester Fidelis.
Bei ihren Leuten gibt es auch Strafen. Mama und Tatta sprachen manchmal von der allerschlimmsten Strafe, die es gibt, die die Alten beschließen können: Nicht mehr dazuzugehören zu ihren Leuten. Ausgestoßen zu sein. Dann ist man ein Nichts. Ein Garnichts. Die Gadsche können zwar die Familien trennen, aber im Herzen bleiben sie zusammen, haben die Eltern ihr eingeschärft. Es sei denn, die Alten durchtrennen das Band.
Als ihr das einfällt, wird Buchela ruhiger. Die schlimmste Strafe können die Nonnen nicht anwenden. Dazu sind sie nicht in der Lage. Alles andere wird sie aushalten.
Es gibt Graupensuppe zu Mittag. Buchela wünscht sich, sie hätte schon die Strafe des Essensentzugs bekommen. Jeder Löffel ist eine Qual. Die Ochsenhufe rutschen nur schwer die Kehle herunter. Der Teller wird nicht leer. Aber das muss er. Ihr Hals ist eng und tut weh bei jedem Schlucken.
Unkonzentriert macht sie die Hausaufgaben, wartet darauf, dass gleich ihr Name gerufen wird. »Margaretha, du sollst zur Oberin kommen!«
Dann die Arbeit. Heute keine Pantoffeln, die ausgestopft werden sollen. Die Mädchen formen Tierfiguren aus Kerzenwachs. Was wie Kinderspiel aussieht, muss ordentlich und nach den ausgegebenen Vorbildern einer Kuh, eines Schafs, einer Ziege, eines Hundes ausgeführt werden. Und während die Kinder ihre Figuren modellieren, liest Schwester Benedicta aus den Legenden des Heiligen Wendelin vor, der ein guter Hirte gewesen ist und viele Menschen zum Glauben gebracht hat. Und weil er die Tiere besonders schützt, sagen die Bauern: »Sankt Wendelin, verlass’uns nie/schirm unsern Stall, schütz unser Vieh.«
In der kommenden Woche begeht man den Todestag des Heiligen. Dann kommen viele Menschen in die Stadt. Sie kaufen auf dem Markt, ehe sie zur Quelle wallfahrten, kleine Wachstiere, die sie später in den Wendelsbrunnen tauchen und zu Hause im Stall zu den Tieren stellen, damit ihr Vieh gesund bleibt.
Buchela formt ein Pferd. Sie denkt an den Braunen, den ihr Vater zuletzt vor den Wagen gespannt hat, ein ruhiges gutmütiges Tier. Nur wenn sie in größeren Orten mit viel Verkehr gewesen sind, hat er vor Aufregung öfter als gewöhnlich den Schwanz angehoben und seine Äpfel auf das Pflaster platschen lassen. Der Vater hat gelacht und Buchela auch. Geschieht ihnen recht, dass er ihnen auf die Straße scheißt, hat sie gedacht. Sie fährt mit dem Fingernagel über den Schwanz des Wachstieres und versucht die Haarsträhnen anzudeuten. Sie ist so vertieft, dass sie aufschreckt, als Schwester Benedicta sie ruft. Also doch. Buchela stellt ihr Pferd vorsichtig auf den Tisch und geht mit hängendem Kopf nach vorn.
»Margaretha. Du wirst in Zukunft nachmittags nicht mehr hier bei den Mädchen im Arbeitssaal sein können«, sagt die Schwester.
»Du bekommst neue Aufgaben.« Muss sie jetzt täglich den Kuhstall ausmisten? Muss sie nur noch schrubben? Was soll sie tun?
»Du weißt, dass wir einen Säugling bekommen haben«, sagt Schwester Benedicta. »Wir werden noch einen zweiten kriegen. Irgendjemand muss sich darum kümmern.«
Buchela nickt. Sie wartet darauf, dass nun die Strafe kommt.
»Schwester Fidelis hat mir berichtet, dass du in der Nacht das Baby beruhigt hast. Deshalb habe ich entschieden, dass wir es mit dir in der Kinderpflege versuchen werden. Ganz einfach wird das nicht sein.«
»Welche Strafe?«
»Was meinst du?«, fragt Benedicta.
»Schwester СКАЧАТЬ