Название: Die sehende Sintiza
Автор: Monika Littau
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783898018890
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Änne besitzt ein Märchenbuch, das sie ständig bei sich trägt. Aus dem hat ihr die Mutter vorgelesen. Das Buch ist eingeschlagen in ein grobes braunes Papier. Darunter befindet sich ein heller, feiner Leineneinband. Vorn ist ein Vogel in brauner Farbe aufgedruckt, der auf einem Ahornzweig sitzt und den Schnabel geöffnet hat, weil er singt. Auf dem lockeren Buchrücken hält ein seltsamer Mann einen sehr langen Bambusstab, an dessen Ende sich ein Lampion befindet. Und in den Lampion hinein sind Buchstaben gesetzt.
»Der sieht aber komisch aus mit dem langen Zopf, dem Kleid und den Goldpampuschen!«
»Ein Chinese«, erklärt Änne. »Und Chinesen sind ganz gelb im Gesicht.« Buchela staunt. Da gibt es also nicht nur diese hellen Gesichter und die braunen der Sinti, sondern auch gelbe. Davon hat sie noch nie etwas gehört.
Änne ist schon in der dritten Klasse und kann lesen. Aber eigentlich kennt sie alle Märchen auswendig, so dass Buchela nicht weiß, was sie abliest oder auswendig daher sagt.
Den Anfang einer Geschichte kennt auch Buchela bald wie Änne auswendig: »Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen.« Und dann stellt sie sich Anton mit seiner Schmalzlocke und dem roten Halstuch vor. Er wird von einem Engel mit einem Strauß Kornblumen und Margariten und Klatschmohn zum Himmel getragen. Genauso muss es gewesen sein.
Und Buchela hofft fest, dass der Lehrer und die anderen Kinder von niemandem abgeholt werden, wenn sie mal ins Gras beißen.
6.
Aufstrich, Ei, Häkchen, Abstrich, Häkchen.
Buchela füllt die Tafel mit Kurrentbuchstaben. Zwei Reihen mit kleinen As, dann zwei Reihen mit großen, die sich zwischen der dicken Ober- und Unterlinie spannen. Sie hält den Griffel verkrampft in der Hand. Die Finger schmerzen. Die Buchstaben müssen alle eine leichte Schrägstellung haben und zwar alle gleich, hat Sauerwein gesagt.
Sie ist die Letzte. Alle anderen sind mit den Hausaufgaben schon fertig. Schwester Christophera geht unruhig auf und ab. Buchela versucht, sich zu beeilen. Aber das große B ist wirklich schlimm. Sie wischt alles wieder weg und beginnt von vorn.
»Es gibt noch anderes zu tun. Sieh zu, dass du fertig wirst!«, sagt die Nonne ärgerlich.
Hastig füllt das Mädchen die Vorderseite des Schiefers. Die Buchstaben stehen kreuz und quer auf den Linien, als tanze jeder einzelne aus der Reihe. Sie torkeln über die Fläche, wie ihre Onkels und der Vater, wenn sie betrunken sind. Aber besser kann sie es nicht. Schließlich schlägt sie die Tafel in ein Stück Zeitung ein, damit nichts verwischt.
Buchela ist eingeteilt zum Putzen. Sie fegt den ausgetretenen Steinboden der Eingangshalle Strich für Strich, holt sich einen Eimer Wasser, schrubbt die Platten, arbeitet sich im Fliesenmuster von einem roten Quadrat im grauen Grund zum nächsten vor.
In der vergangenen Woche hat sie Kartoffeln gelesen, ist auf den Knien mit ihrem Korb über den schmierigen Ackerboden gerutscht. Endlose Reihen bis zum Himmel. Feuchte Erde an den Händen. Die dicke Schicht trocknete irgendwann, riss auf, sprang flächig ab von der Haut. Am Kartoffelkrautfeuer fühlte sie sich fast wie zu Hause.
Am liebsten hat sie Ziegendienst. Dann geht sie allein mit den Tieren aus der Umzäunung der kleinen Weide heraus, zerrt die braunweiße Schecke und die Weiße mit dem gelben Rücken vom Wegrand weg, wo sie sofort anfangen, die herunterhängenden Äste der Bäume zu benagen. Sie zieht sie hinter sich her bis zum Waldrand, hämmert den Pflock mit einem Stein in den Boden und setzt sich an den Stamm eines Baumes.
Die Borromäerinnen haben sich auf die Herstellung von Pantoffeln spezialisiert. Buchela hasst es, im Akkord Pantoffeln auszustopfen. Wollpantoffeln werden immer gebraucht, sagen die Nonnen. Sie verkaufen sich gut auf dem Markt, besonders zur Wallfahrtszeit.
Dann lieber Schrubben.
Sie arbeitet sich nun langsam von der Wand auf die Eingangstür zu, spürt, wie der Boden in der Mitte des Raumes rauer wird, abgetreten und schmutzig. Hier mischt sich alles: der Schmutz aus der Schule, vom Markt, von der Marienstraße, vom Keller und sogar vom Schweinestall, so fein, dass sie es mit den Augen nicht sehen kann, aber trotzdem spürt. Wenn sie den Lappen im Eimer auswäscht, den Aufnehmer auswringt, fließt graue Brühe heraus.
Ein Windstoß fährt in den Flur. Am Eingang schiebt sich ein Uniformierter durch die aufgerissene Tür und betritt die Halle. Er hält die Tür für einen zweiten auf, der ein wimmerndes Bündel auf dem Arm trägt. Derbe geschnürte Schuhe mit grobem Profil auf dem feuchten Boden. Die Männer klopfen an die Tür der Mutter Oberin und gehen hinein. Buchela nimmt ihren Lappen, steht auf, wischt die Spur der Schuhe weg. Als sie vor Schwester Lucindas Zimmer angekommen ist, hört sie Stimmen, kann einzelne Worte unterscheiden. »Der Magistratsrat hat das so beschlossen«, sagt eine Männerstimme bestimmt. »Auch der Waisenpfleger«, hört sie den anderen Mann und dann die laute Stimme von Schwester Lucinda: »Was denken Sie denn. Wir sind ein Waisenhaus, kein Säuglingsheim! Geben Sie den Säugling in Pflege! Wer soll sich bei uns denn um dieses Bündel kümmern?« Bewegungen hinter der Tür. Eilig nimmt Buchela ihren Lappen und kehrt zurück zum Eimer. Kaum taucht sie den Aufnehmer in das Wasser, als die Männer das Zimmer verlassen und erneut über den feuchten Boden laufen. Die Tür haben sie offen gelassen und so entdeckt die Nonne Buchela und kommt eilig auf sie zu. Das Mädchen sieht, wie die Falten des Rockes der Oberin beim Gehen knicken und wieder aufspringen. Buchela blickt vom Eimer auf und sieht unter die große weiße Flügelhaube, die das lederne Gesicht der Oberin umrahmt. »Hol Schwester Fidelis. Sie soll sich beeilen!«
Auf Schwester Lucindas Arm kräht das Kind.
Buchela findet Schwester Fidelis im Webraum.
»Was machst du hier?«, fährt sie die Nonne an.
»Die Oberin.«
»Kommt sie her?«
Buchela schüttelt den Kopf.
»Also soll ich zu ihr?« Das Mädchen nickt.
Die Spur von Schwester Fidelis Schuhen sieht im Flur wie die Fährte eines Feldhasen aus: schmale, lange Zeichen. Die Nonne betritt das Zimmer der Äbtissin. Das Schreien des Kindes dringt nach draußen, hallt im kahlen Raum wider. Buchela fühlt das Weinen im eigenen Bauch. Am liebsten würde sie sofort zu Mutter Lucinda laufen. Ich trag sie, würde sie sagen. Ich trag sie gern. Dann beugt sich Buchela jedoch wieder über ihre Arbeit, um schnell fertig zu werden. Noch eine Plattenreihe. Sie fasst schließlich den Zinkeimer, tritt vor die Tür, kippt das Wasser eilig in die Straßengosse, wringt das Tuch kräftig aus und kehrt in die Halle zurück. Sie bleibt stehen, lauscht, nähert sich der geschlossenen Tür des Oberinnenzimmers, lauscht wieder. Nichts. Kein Kinderschreien, keine Stimmen. Sie kommt zu spät.
7.
Jetzt, im Herbst, gehen die Mädchen schon um halb sieben nach oben, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit ausgekleidet sind. Kerzen, Karbid- oder Petroleumlampen gibt es nicht genug, Brennmaterial ist teuer.
Buchela liegt wach in ihrem Bett. Wie eine Litanei sagt sie sich ihren Namen vor: »Buchela. Buchela. СКАЧАТЬ