Название: Kinder auf der Flucht
Автор: Martin Arnold
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783858698902
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Die 374 Buchenwaldkinder entsprechen in keiner Art und Weise dem Bild von bis aufs Skelett abgemagerten Kindern, das man sich gemacht hatte: Sie sind, über zwei Monate nach der Befreiung durch britische Truppen, bei guter Gesundheit und wohl genährt. Als man sie in militärisch organisierte Lager steckt, begehren sie auf, disziplinarische Maßnahmen mit antisemitischem Unterton lassen sie sich nicht gefallen. Und weil der Bundesrat anfänglich darauf besteht, die Betreuung der staatsnahen Kinderhilfe des Roten Kreuzes anzuvertrauen, sind die jüdischen Organisationen ausgeschlossen. Noch vor wenigen Jahren waren sie vom Staat praktisch im Stich gelassen worden, die Mittel für die Betreuung jüdischer Geflüchteter mussten sie selbst aufbringen. Als sie und andere Hilfswerke schließlich nach einigen Monaten zugelassen werden, sind sie genauso überfordert. Für die große Mehrheit der Buchenwaldkinder dauerte der Aufenthalt in der Schweiz länger als die geplanten maximal eineinhalb Jahre. Geblieben sind nur dreißig.
Die Weiterwanderung bleibt auch nach Kriegsende das Ziel der schweizerischen Flüchtlingspolitik. Das gilt auch für die jungen Leute, die während des Kriegs in die Schweiz gelangt sind. Das SHEK befragt zwischen Juli 1944 und Februar 1945 1350 alleinstehende Kinder und Jugendliche, um mehr zu erfahren über Herkunft, Alter, Familie und mögliche Auswanderungsziele. In den folgenden Monaten gelingt es in 1186 Fällen, Angehörige im Ausland ausfindig zu machen. 164 Kinder gelten als gänzlich verlassen. Für 103 von ihnen ist bereits die Auswanderung nach Israel organisiert. Insgesamt werden es bis Ende 1947 450 Kinder sein. Der überwiegende Teil kehrt aber ins Heimatland zurück.
Auf der politischen Bühne steigt der Druck auf den Bundesrat, die restriktive Praxis aus Kriegstagen zu ändern und an die Realität einer Nachkriegszeit anzupassen, in der nach wie vor in ganz Europa Millionen von Menschen heimatlos sind. Doch erst knapp zwei Jahre nach Kriegsende wird das »Dauerasyl« eingeführt. Es gelten Einschränkungen. Das Dauerasyl wird nur jenen Ausländern gewährt, bei denen »dauerndes Verbleiben in der Schweiz« gestattet werden soll »wegen ihres Alters, Gesundheitszustandes oder anderer besonderer Umstände«. Tatsächlich wird dieses nur gerade 1345 Personen gewährt. Im Oktober 1947 befinden sich noch immer über 14’000 staatenlose Geflüchtete in der Schweiz, die den Restriktionen des Ausländergesetzes von 1931 unterworfen sind. Erst mit dessen Revision im Oktober 1948 werden alle Geflohenen bessergestellt und erhalten die Möglichkeit einer befristeten Aufenthalts- oder dauerhaften Niederlassungsbewilligung. Die Kantone sind nun nicht mehr verpflichtet, diese zu »dulden«, sondern sie »aufzunehmen«. Das hindert einige Kantone nicht daran, den Druck auf die Geflohenen, auszureisen, aufrechtzuerhalten. Insbesondere werden Arbeitsbewilligungen verweigert, auch wenn der Bundesrat eine »weitherzige« Praxis empfohlen hat. Mit zusätzlichen finanziellen Anreizen des Bundes kann das Problem Ende 1950 etwas gemildert werden. Von den etwa 11’000 der noch in der Schweiz verbliebenen Geflüchteten hat die Hälfte nach wie vor keinen Aufenthaltsstatus. Darunter finden sich viele Kinder, Schüler, Studenten und Menschen im besten Arbeitsalter von zwanzig bis vierzig Jahren. Angesichts von weltweit 60 Millionen Geflohenen, davon 15 Millionen in Europa, sei es »nicht zu rechtfertigen, auch noch die Flüchtlinge, die sich in der Schweiz befinden und sich hier korrekt verhalten, zur Weiterwanderung zu veranlassen«. Es ist eine sehr späte Einsicht.
Man wird nie genau wissen, wie viele Schutzsuchende die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zurückgewiesen hat. Viele Akten aus der Kriegszeit sind vernichtet worden, manche Abgewiesene wurden gar nicht registriert. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg spricht in ihrem 2002 veröffentlichten Schlussbericht für die Kriegsjahre von »über 20’000« an der Grenze Abgewiesenen. Dazu kommen 14’500 auf Konsulaten und Botschaften abgelehnte Einreisegesuche. Über Geschlecht, Fluchtgründe, Alter und Religion dieser Menschen ist nichts bekannt. 295’381 Menschen seien in der Schweiz in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden, schrieb Carl Ludwig 1957 in seinem im Auftrag des Bundesrats verfassten Bericht Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Davon befanden sich zu Kriegsende rund 115’000 in der Schweiz. Die Zahlen sind irreführend, hat Ludwig doch einfach verschiedene Kategorien von Flüchtlingen zusammengezählt. So figurieren darunter auch rund 60’000 Kinder, die für mehrwöchige Erholungsaufenthalte in der Schweiz weilten, und 66’000 Grenzflüchtlinge, die zu Kriegsende meist nur wenige Tage Schutz gesucht hatten, um den letzten Kämpfen zu entgehen. Aussagekräftiger ist die von der Bergier-Kommission ermittelte Zahl von 51’129 zivilen Flüchtlingen, die ohne Einreisebewilligung während des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden. Unter ihnen waren über 10’000 Kinder. Zählt man noch die knapp 8000 mehrheitlich jüdischen Emigranten dazu, die vor Kriegsausbruch in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten, und weitere 2000, die kantonale Toleranzbewilligungen erhalten hatten, so dürften es laut Bergier-Kommission rund 60’000 Menschen gewesen sein. Knapp die Hälfte waren Juden.
Inge Joseph beginnt im Juli 1945 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie möchte Hebamme werden, helfen, Leben zu schenken, anstatt es zu beenden. Im Mai 1946 reist sie in die Vereinigten Staaten aus, wohin ihr Vater und ihre Schwester schon vor dem Krieg emigriert sind. Ihre Mutter ist in Auschwitz ermordet worden, ihre Großmutter verbringt ihre letzten Jahre in einem Lausanner Altersheim. Die Schweiz behält sie als familiäres und herzliches Land in Erinnerung. Doch ihre traumatische Jugend wird sie nie mehr loslassen. Was damals geschah, darüber spricht sie kaum. Ende der 1950er Jahre schreibt sie ein 66-seitiges Manuskript mit den Erinnerungen an ihre Jahre als verfolgte jüdische Jugendliche in Europa. Das unfertige Manuskript verschwindet, nachdem verschiedene Verlage es zurückgewiesen haben, in einer Schublade. 1983 nimmt sie sich im Alter von 58 Jahren das Leben. In ihren letzten Jahren hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen, auch ihre Angehörigen hatten sie nicht mehr erreicht. Als ihr Neffe David Gumpert ihre Erinnerungen liest, beschließt er, sie posthum fertigzustellen. Er recherchiert, trifft ihre überlebenden Leidensgenossen und auch die noch lebenden Schweizer Helferinnen und Helfer. Das Buch erscheint 21 Jahre nach Inge Josephs Tod. Eine deutsche Übersetzung steht aus.
Naara Appel
»Ich habe mit meinem Großvater geweint«
»Ich vermisse meinen verstorbenen Großvater, er war mir in seinen letzten Jahren sehr nahe, nicht mehr nur der liebevolle Paschlö, der uns Enkelkinder in seinem Sommerhaus mit seinem Akkordeon in den Schlaf wiegte, sondern Klaus Appel, ein sehr selbstbestimmter Mann, der fast seine ganze Familie in der Shoa verlor. Ich bin dem jüdischen Glauben stärker verbunden, als er es war, der sein Judentum als Dienst an der jüdischen Gemeinschaft verstand, und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es einen Gott oder einen Himmel gibt, so ist der Gedanke doch tröstlich, er möge seine Familie wieder gefunden haben, die er mit 14 Jahren, am 31. August 1939, verlassen musste, um als eines der letzten Kinder nach England gerettet zu werden. Nur Stunden später begann der Zweite Weltkrieg. Mein Großvater wusste, dass er sie nicht wiedersehen würde. Von da an war er weitgehend auf sich allein gestellt.
Ich war ein Teenager, als ich mich zu fragen begann, wie er mit einer solchen Kindheit in ein normales Leben gefunden hatte. Ich, wohlbehütet und im Wohlstand lebend, er, der mit einer solch traumatischen Erfahrung überleben musste. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, alle wussten in der Familie, was geschehen war, und er sprach bereitwillig darüber, wenn er gefragt wurde, nicht nur im Familienkreis, sondern auch in der Öffentlichkeit. Und doch umgab ihn immer etwas Rätselhaftes. Es gab etwas, das er nicht mit uns teilen СКАЧАТЬ