Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
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Название: Kinder auf der Flucht

Автор: Martin Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783858698902

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СКАЧАТЬ Die Herausforderung für die kleinen jüdischen Gemeinden ist enorm. 12’162 Juden zählt das Land im Jahr 1900. Zehn Jahre später sind es 18’469 oder knapp 0,5 Prozent der Bevölkerung. Nur ein Drittel von ihnen hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Es gibt beträchtliche kulturelle Hürden, da und dort werden die »Ostjuden« selbst von ihren Glaubensgenossen als »Schnorrer« tituliert, die den jüdischen Gemeindekassen auf der Tasche lägen. Denn nur sie sind für deren Unterstützung verantwortlich. Die Juden in der Schweiz haben politisch kein Gewicht, sie verfügen selbst erst seit 1866 über die Niederlassungsfreiheit und seit 1874 über das Recht zur freien Religionsausübung. 1893, als eine Volksinitiative für ein Schächtverbot gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen wird, mit teils offen antisemitischer Propaganda, werden ihnen die politischen Grenzen bewusst. Die jüdischen Migranten aus Osteuropa, so unbedeutend ihre Zahl auch gewesen sein mag, werden schon bald ungewollte Kronzeugen für eine radikale Wende der liberalen Ausländerpolitik. Sie wird nur fünfzehn Jahre später für Juden, die vor den Nazis fliehen, katastrophale Folgen haben.

      Die Schweiz war bis 1914 ein Land des Freihandels und der offenen Grenzen mit einem Ausländeranteil von 14,8 Prozent. Er wird erst in den 1960er Jahren wieder erreicht werden. Es gilt für die meisten Ausländer die Niederlassungsfreiheit. Das Land wird im Ersten Weltkrieg als »Sanitätsposten Europas« auch international respektiert. 1920 tritt die Schweiz, nach einem positiven Volksentscheid und unter Wahrung einer »differentiellen Neutralität«, der sie von der Verpflichtung befreit, sich an militärischen Sanktionen zu beteiligen, dem neu gegründeten Völkerbund bei.

      Doch innenpolitisch dreht der Wind. Schon während des Kriegs hat sich die großzügige Haltung gegenüber Migranten gewandelt. Von »Heuschrecken, die das ruhige Schweizerland überfluten«, ist in der Presse die Rede. Gemeint sind, wie sich der jüdisch-ukrainische Schriftsteller Schemarya Gorelik erinnert, Juden aus Galizien, Polen, Ungarn und Russland, »überhaupt die Juden«. Gorelik wird selbst kurz nach Kriegsende ohne ersichtlichen Grund ausgewiesen. »Ostjuden« werden als »Kriegsspekulanten« auch dafür verantwortlich gemacht, dass es zu Versorgungskrisen kommt, die allerdings eine Folge eines mangelhaften Rationierungssystems sind. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Ostjuden werden nun pauschal als unerwünscht bezeichnet. 1917 nimmt der Bundesrat auf dem Verordnungsweg das Heft, das bislang von den Kantonen geführt wurde, selbst in die Hand. Es sind die führenden Beamten der neu geschaffenen Zentralstelle für die Fremdenpolizei, die einen schon seit der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit herumgeisternden Begriff zur Staatsräson machen: die »Überfremdung«. Deren Bekämpfung, namentlich der »Verjudung« der Schweiz, wird nun zur wichtigsten Aufgabe der Fremdenpolizei. Dabei schrumpft der Ausländeranteil kontinuierlich, auf 10,4 Prozent 1920, 8,7 Prozent 1930 und noch 5,2 Prozent 1941, während der Anteil jener Einwohner mit ausländischem Pass, die in der Schweiz geboren sind, steigt. Die Einbürgerungsbedingungen werden verschärft. Die Wartefrist für das Gesuch wird von zwei auf vier und später sechs Jahre erhöht. Heute sind es zehn. Damit verkehrt sich ein Credo der eidgenössischen Einwanderungspolitik nach und nach ins Gegenteil. War vor dem Ersten Weltkrieg noch die rasche Einbürgerung als eigentliches Ziel betrachtet und gar erwogen worden, Ausländer zwangseinzubürgern, so verschwindet diese nun von der politischen Landkarte, und in der Niederlassungspolitik herrschen Kriterien wie »politische und soziale Auslese« vor. Die Einwanderung soll nur dann möglich sein, wenn es wirtschaftliche Erfordernisse gibt. 1925 erhält der Bund per Volksentscheid definitiv die alleinige Kompetenz in der Regelung von Ausländerfragen. 1931 wird das »Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« verabschiedet. Es tritt 1934 in Kraft und fixiert den Kampf gegen die sogenannte Überfremdung mittels Koppelung von Niederlassung und wirtschaftlicher Notwendigkeit. Geregelt ist darin in zwei Sätzen auch die Asylpolitik. Danach entscheidet der Bundesrat über die Gewährung politischen Asyls. Die später erlassenen Ausführungsbestimmungen sind präziser: Die Schweiz versteht sich als reines Transitland für Geflohene. Bund und Kantone sind für die administrative Kontrolle zuständig, die Finanzierung des Aufenthalts müssen die Betroffenen selbst, Hilfswerke oder private Organisationen übernehmen. Juden, die aus rassischen Gründen verfolgt werden, haben kein Asylrecht. Auch Kommunisten sind ausgeschlossen. In der Folge sind es fast ausschließlich verfolgte politische Würdenträger und Intellektuelle, denen Asyl gewährt wird. Dieses politische Asyl erhalten in der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1945 644 Menschen. Kinder, seien es Waisen oder seien sie mit ihren Eltern auf der Flucht, spielen in diesen ersten gesetzgeberischen Schritten der Schweizer Geschichte zur Asylpolitik keine Rolle. Das wird sich bald ändern.

      Als der Schweizer Rodolfo Olgiati, seit 1935 Sekretär des Internationalen Zivildiensts, auf einer Erkundungsmission am 23. Januar 1937 mit einem überfüllten Nachtzug aus Barcelona in Valencia eintrifft, zählt die Stadt über eine Million Einwohner. Zwei Drittel von ihnen sind aus Madrid und anderen Gebieten, wo seit einem halben Jahr der Spanische Bürgerkrieg tobt, evakuiert worden. Die meisten von ihnen sind Kinder. »Man erzählt Fälle von einfachen Arbeitern oder von Bauern, die selbst mehrere Kinder haben und dazu drei, vier, ja sechs Flüchtlingskinder aufnehmen. Viele von ihnen geben ihr letztes her«, erinnert sich Olgiati in seinem Buch Nicht in Spanien hat’s begonnen. Rasch stellt sich heraus, dass es an Transportmitteln mangelt für die weiteren Evakuationen. Es ist die Rede von 350’000 Menschen, die allein in Madrid auf einen Transport warten. So wird klar, dass die beabsichtigte Hilfe der im Februar 1937 gegründeten »Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder« vorerst darin bestehen muss, Unterstützung bei den Evakuationen zu leisten und Nahrungsmittelhilfe bereitzustellen. In den kommenden Wochen gelingt es, in der Schweiz genügend Mittel zu sammeln, um vier Lastwagen zu kaufen. Die offizielle Schweiz hält sich wenig vornehm zurück, die Sympathien des Bundesrats liegen mehrheitlich bei den Aufständischen unter Führung des Putschisten Francisco Franco, dem späteren Diktator des Landes. Die Aufständischen wollen von Anfang an von der privat organisierten Hilfe aus der Schweiz nichts wissen, obwohl die Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder ihre Neutralität betont und ausschließlich humanitäre Hilfe leisten will. Sie muss ihr Einsatzgebiet auf das Territorium der demokratisch gewählten Regierung beschränken. Am 4. Mai 1937 erreicht der kleine Schweizer Konvoi erstmals Madrid, beladen mit Kleidern und Lebensmitteln. In einem ehemaligen Kloster warten Hunderte auf den Weitertransport. In den folgenden Wochen etabliert Olgiati mit seinen Helferinnen und Helfern einen fast fahrplanmäßigen Betrieb zwischen Valencia und Madrid. Zwei Drittel der Evakuierten sind Kinder. Die Not ist groß, und die Notleidenden klopfen auch an die Türe der Schweizer Helferinnen und Helfer, die ihr Quartier in der Nähe von Valencia aufgeschlagen haben. »Wenn wir wegen der Beschränktheit der Mittel oft nicht um eine gewisse Härte und Unerbittlichkeit herumkommen, so müssen auch aus dem Neinsagen Sympathie und Gerechtigkeitswille herauszuspüren sein«, schreibt Olgiati. »Wir wissen, dass, wenn es auch, äußerlich gesehen, beim Geben darum geht, einem ganz bestimmten Menschen hier und jetzt zu helfen, tiefer betrachtet, dabei doch ebenso sehr der Geber selbst infrage steht.« Inzwischen betreiben die Schweizer Helfer der Ayuda Suiza mehrere Kantinen in Madrid, etwa in der größten Frauenklinik der Hauptstadt. Mit Fortdauer des Kriegs wächst auch die Not, und zunehmend werden die Versorgung mit Lebensmitteln und die Suppenküchen zum Hauptaufgabengebiet, das international koordiniert sein will. Die Hilfe kommt aus vielen Ländern. So sind im Sommer 1938 in Katalonien fünfzig Kantinen zur Versorgung von 12’000 Kindern in Betrieb. Parallel dazu gehen die Evakuierungsfahrten weiter, allein im Juni 1938 werden von zwei Lastwagen 1960 Menschen transportiert. Die Lage wird immer dramatischer. Im September 1938 wird die tägliche Ration an Lebensmitteln auf 850 Kalorien gesenkt. Im Januar 1939 hat der Krieg längst auch Barcelona erreicht. Olgiati gelingt es, 82 erschöpfte Kinder nach Frankreich zu bringen. Sie werden die kommenden Wochen in der Schweiz verbringen und kehren im Frühjahr 1939 nach Spanien zurück. Die Ayuda Suiza wird von den neuen Machthabern außer Landes geschickt, auch wenn die Not, wie Olgiati bei einem letzten Besuch in Madrid im Mai 1939, als der Krieg vorbei ist, feststellt, größer sei denn je. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen die letzten Schweizer Helfer Spanien. Die Arbeit geht in Südfrankreich weiter. Hunderttausend Menschen fliehen nach dem Ende des Bürgerkriegs in das Nachbarland. Unter ihnen sind viele Kinder, die in den Kantinen der Ayuda Suiza ein- und ausgegangen sind.

      Frankreich ist schon wenige Wochen nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten СКАЧАТЬ