Название: Kinder auf der Flucht
Автор: Martin Arnold
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783858698902
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Die Schweizer Bürokratie wirkt wie ein Knüppel, der zwischen die Beine geworfen wird. So heißt es in einem Brief einer kantonalen Fremdenpolizei: »Weisungsgemäß setzen wir Sie in Kenntnis, dass in nächster Zeit solche Bewilligungen nicht erteilt werden können. In der Schweiz selbst sind ohne Zweifel sehr viele erholungsbedürftige Kinder vorhanden, und es können der Familie A aus Städten und Gebirgsgegenden solche in großer Zahl zur Aufnahme offeriert werden«, wie sich Nettie Sutro in ihrem Buch Jugend auf der Flucht 1933–1948 erinnert. Sutro leitet das SHEK von der Gründung bis zu dessen Auflösung 1947. Das SHEK betreut in den Vorkriegsjahren auch Kinder, die in der Schweiz Aufnahme gefunden haben, in der Regel mit ihren Eltern, im Ausnahmefall auch allein.
Die Schweiz setzt in diesen Jahren auf dem Behördenweg um, was politisch in den Jahren 1931 bis 1934 aufgegleist worden war. Sie versteht sich als »Wartesaal«, als reines Transitland, das Geflüchteten, wenn überhaupt, nur befristet Aufnahme gewährt. Diese Toleranzbewilligungen sind an hohe Auflagen gebunden. Es herrscht striktes Arbeitsverbot, es braucht gültige Identitätspapiere (gerade für ausgebürgerte deutsche Juden ein Ding der Unmöglichkeit) und es müssen hohe Kautionen von bis zu 10’000 Franken geleistet werden, was inflationsbereinigt heute etwa 75’000 Franken entspricht. Sie müssen zudem für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen. Schon die »tatsächliche oder mit Sicherheit vorauszusehende Inanspruchnahme der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit« genügt als Abweisungsgrund. Das Bleiberecht hängt deshalb vom Engagement der Hilfswerke ab, was diese wiederum dazu zwingt, den Geflohenen eine möglichst rasche Weiterreise zu ermöglichen. Die Helferinnen (es sind in der Mehrheit Frauen) versuchen unter Federführung der 1936 als Dachverband gegründeten Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe bei den Behörden zu intervenieren. Ihr Forderungskatalog enthält unter anderem jeweils für ein Jahr gültige Flüchtlingsausweise, längere Ausreisefristen, Beiträge an die Hilfswerke und den Verzicht auf Kautionen, wenn die Hilfswerke für den Unterhalt aufkommen. Er bleibt unberücksichtigt. Heinrich Rothmund, seit 1919 Chef der Fremdenpolizei, spricht in einem internen Papier von den »Trägerinnen« der Hilfsaktionen, »die gern das Maß für das Mögliche verlieren«. Er sieht »eine Gelegenheit, ihnen den Weg zu weisen, auf dem sie Nützliches leisten können und sie aus der Utopie zurückholen [sic]«.
Auf den »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich am 15. März 1938 und die kurz darauf einsetzende Judenverfolgung und -vertreibung reagierte die Schweiz mit der Einführung der Visumspflicht für Österreicher. Auf Vorschlag der Schweiz führen die reichsdeutschen Behörden im September 1938 den J-Stempel in den Pässen ein, der Staatsbürger jüdischen Glaubens brandmarkt. Heinrich Rothmund ist zufrieden: »Wir haben seit dem Bestehen der Fremdenpolizei [1917] eine klare Stellung eingehalten. Die Juden galten in Verein mit den anderen Ausländern als Überfremdungsfaktor. Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit, die Verjudung der Schweiz zu verhindern.« Dennoch schaffen es Kinder aus Österreich allein in die Schweiz, wo sie, zusammen mit rund 200 Kindern, die aus gesundheitlichen Gründen oder als Kleinkinder vorübergehend aufgenommen worden sind, von verschiedenen Hilfsorganisationen, unter ihnen auch dem SHEK, weiter betreut werden. Nach der »Reichskristallnacht« und den Pogromen am 9. November 1938 gelingt es dem SHEK, Rothmund das Zugeständnis für die Aufnahme von 300 jüdischen Kindern aus Deutschland abzuringen. Georgine Gerhard von der Sektion Basel appelliert in einem Brief an Rothmund, »dass es eine Schande wäre, die Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung ungenutzt zu lassen«. Der Chef der Fremdenpolizei bewegt sich im Rahmen des Zulässigen und einer Politik, die im Grundsatz nur sogenannte Toleranzbewilligungen für einen Aufenthalt von jeweils drei Monaten zulässt, die laufend verlängert werden müssen. Eine Garantie für die Weiterreise will das SHEK nicht abgeben, aber man werde das Möglichste tun. Auch damit bewegte sich das SHEK im Rahmen seines engen Spielraums – eine Gratwanderung zwischen Unterwerfung unter die behördlichen Vorgaben und der reinen Menschlichkeit.
Die Schweizer Behörde machte restriktive Auflagen zu Höchstalter, Herkunft und sozialen Verhältnissen (die Kinder mussten entweder Vollwaisen sein oder ein Elternteil musste im Konzentrationslager inhaftiert sein), sie verlangte gültige Ausweispapiere und Angaben zu Aufenthaltsdauer, Weiterwanderung und Finanzierung. Geld vom Bund für die Betreuung der 300 Kinder war nicht vorgesehen. Noch bis 1942 überließ man die Mittelbeschaffung auf Basis eines Abkommens mit dem Israelitischen Gemeindebund von 1938 weitgehend den 18’000 in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossenen Jüdinnen und Juden in der Schweiz und weiteren Hilfswerken. Das Geld kam in steigendem Umfang auch aus dem Ausland, namentlich von der jüdischen US-amerikanischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Comitee JOINT. Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 gelang es, rund 250 Kinder in die Schweiz zu bringen. Sie wurden vorwiegend in zwei Heimen in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Baselland untergebracht. Die verlangte Weiterwanderung gelang wegen des Kriegsausbruchs nur in wenigen Fällen. Über 220 Kinder verbrachten die Kriegszeit in der Schweiz. Die meisten verließen das Land nach dem Krieg. Nur ganz wenige blieben. Es sei ihr über viele Jahre schwer gefallen, über diese Zeit zu sprechen, erinnert sich Karola Siegel (die sich nach ihrer Auswanderung in die USA Ruth Westheimer nennen und eine Karriere als Sexualtherapeutin machen wird) in ihrer Autobiografie. »In den Hunderten Interviews, die ich als Dr. Ruth gegeben habe, kam ich eigentlich nie darauf zu sprechen; nicht nur, weil sie so schwierig und schmerzlich waren. Nein, vor allem wegen eines Satzes, der uns während der sechs Jahre in der Schweiz so erfolgreich eingehämmert worden war: Beklage dich nie. Du hast Glück, dass du noch am Leben bist.«
Das SHEK konzentriert seine Arbeit im Zweiten Weltkrieg gezwungenermaßen auf die Hilfe für die in die Schweiz geflohenen Kinder. Diese leben, wenn sie alleine sind, in der Regel in Heimen oder, wenn sie mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen sind, in privaten Unterkünften und zunehmend in Internierungslagern. Der Bund beschließt am 12. Mai 1940 die Internierung aller Geflüchteten in Lagern und setzt diese Politik nach und nach um. Damit soll insbesondere die dauerhafte Niederlassung verhindert werden. Diese Bestimmungen sind schon im Herbst 1939 wesentlich verschärft worden. Die Kantone sind angewiesen, jeden rechtswidrig, also ohne Visum eingereisten »Emigranten«, wie die Geflohenen neuerdings genannt werden, mit ganz wenigen Ausnahmen auszuweisen. Damit, so die krude Begründung aus dem Justiz- und Polizeidepartement, sollte Gerechtigkeit mit all jenen hergestellt werden, denen auf Botschaften und Konsulaten ein Visum verweigert worden war. Arbeiten ist den Aufgenommenen weiter verboten beziehungsweise nur im Rahmen von Arbeitseinsätzen erlaubt. So bauen Internierte unter anderem die Sustenpassstraße. Die Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder ermöglicht in den Jahren 1940 und 1941 auch rund 7000 Kindern aus Frankreich und Belgien dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz. Die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung ist riesig. Es stehen jeweils weit mehr Plätze in Familien zur Verfügung, als Kinder aufgenommen werden können. Jüdische Kinder sind nicht mehr darunter. Die Schweizer Behörden werfen diese Kinder in einen Topf mit den Erwachsenen. Eine Aufnahme, und sei es auch nur für drei Monate, wird verweigert.
Am 1. Dezember 1942 bestimmt СКАЧАТЬ