Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
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Название: Kinder auf der Flucht

Автор: Martin Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783858698902

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СКАЧАТЬ zu legen. Er habe nie Rachegelüste gehabt. Auf der Rückfahrt aus dem Konzentrationslager durch das kriegszerstörte Deutschland in seine Heimat sei ihm bewusst geworden, dass die Gewalt auf deren Urheber zurückgeschlagen habe. Damit sollte es nun genug sein.

      Bis sein 16-jähriger Sohn die Familie wachrüttelte: Das war 1978, als der US-amerikanische Vierteiler Holocaust auch im europäischen Fernsehen gezeigt wurde. Wie konnte es sein, dass ihr euch nicht gewehrt habt, euch einfach habt abschlachten lassen, habe sein Sohn die Großmutter gefragt. Da brach als erste Ivan Lefkovits’ Mutter ihr Schweigen. Sie schrieb in hohem Alter ihr Leben auf. Ihr Sohn sollte es ihr Jahre später gleichtun. Doch anders als seine Mutter, die wesentlich genauere Erinnerungen hatte als er, der sie als Siebenjähriger ins Konzentrationslager begleiten musste, widmete und widmet sich Lefkovits vielmehr dem Gedenken und der Frage nach Sühne, nach Schuld und nach Verantwortung. In Heidelberg brach eine Zuhörerin in Tränen aus, als er als Zeitzeuge auf einem Podium über das Konzentrationslager erzählte. Die Frau berichtete, sie habe in den Unterlagen ihres verstorbenen Großvaters gelesen, den sie als warmen, liebevollen Menschen sehr verehrt habe. Doch er sei als Wächter im KZ Bergen-Belsen tätig gewesen. Deshalb sei sie gekommen. Sie habe die Stimme eines Überlebenden hören wollen. Lefkovits sagte zu ihr, sie trage keinerlei persönliche Schuld, aber es sei gut, wenn sie sich mit den Opfern identifiziere. Sie solle ihren Weg gehen und die Geschichte ihres Großvaters loslassen. Andere bäten ihn um Verzeihung. »Ich verzeihe diesen Menschen dann, ihnen zuliebe. Aber es gibt nichts zu verzeihen. Sie sind unschuldig.« Schuld trügen vielmehr die Nationen, die an diesen Verbrechen beteiligt gewesen seien, namentlich die deutsche, aber auch all jene, die kollaboriert hätten. »Daraus erwächst eine historische Verantwortung, die leider nur Deutschland wahrnimmt.« Würde Ivan Lefkovits dem Großvater der Frau verzeihen, die als Enkelin mit Schuldgefühlen kämpft? »Das kann ich nicht sagen. Es hinge vom Grad seiner Schuld ab. Nach der Befreiung gab es in Bergen-Belsen einen sehr fair geführten Prozess. Es gab Todesurteile, Gefängnisstrafen und Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Dieses Gericht hat bestraft, aber es hat keine Rache geübt.«

      Ivan Lefkovits, Jahrgang 1937, lebt in Basel.

      »Ein Kreis hat sich geschlossen«

      »Es war um das Jahresende des Jahres 1946. Unser voll besetzter Zug war nach langer Fahrt in Basel eingetroffen. Wir waren alle Kinder aus Berlin, von Rotkreuz-Helferinnen abgeholt, um ein halbes Jahr in der Schweiz bei einer Gastfamilie zu verbringen. Kaum waren wir ausgestiegen, mussten wir uns nackt ausziehen und wurden in einen Duschraum geführt. Wir sollten uns waschen. Danach wurden wir genau unter die Lupe genommen, ob wir die gefürchtete Krätze hätten. Die Helferinnen achteten dabei sehr darauf, dass unsere Namensschilder nicht verwechselt wurden. Wie ich, das sechsjährige Mädchen, nach St. Gallen gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass mein Gastvater Ernst Fick mir sehr sympathisch war, während seine Frau Erika mir etwas Angst einjagte. Doch das legte sich.

      Die Zeit verging wie im Flug, ich hatte kaum Heimweh, schon bei der Abreise in Berlin war ich voller Vorfreude gewesen. Ich lebte bei meiner Großmutter in einem hübschen Häuschen in einem Berliner Vorort, praktisch seit meiner Geburt. Meine Mutter war auch da, aber sie hatte kaum Zeit, sie musste arbeiten. Mein Vater war die ganzen Kriegsjahre an der Front. Ich hatte über ihn kaum eine Vorstellung, wusste nicht, wie er aussah oder wie er roch. Er war ein Fremder. Auch mein 1942 geborener Bruder wurde von Oma betreut. Von meiner Mutter sind mir aus diesen Jahren nur die langen Streitereien mit meiner Großmutter in Erinnerung geblieben, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren. Aber wir lebten auf engem Raum. In den Kriegsjahren ging es uns vergleichsweise gut, wir hatten dank unseres Gartens genug zu essen, und die von den schweren Erschütterungen der Bombardements geprägten vielen Stunden im Keller verbrachte ich auf Omas Schoß. Mein Bruder quietschte fröhlich, wenn Wände und Decken zitterten. Dabei hatten wir noch Glück. Die Bomber zielten auf das Feuerwehrhaus in dem Vorort, in dem wir lebten. Berlin, das ich trotz der kurzen Entfernung kaum kannte, wurde viel heftiger bombardiert.

      Nach dem Krieg wurde es schwieriger. Es fehlte an allem, vor allem aber an Nahrung. Ich weiß nicht, ob wir über die Runden gekommen wären, hätten uns nicht regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln aus der Schweiz erreicht. Die Familie Fick aus St. Gallen schickte sie. Sie hatten uns nicht vergessen aus der Zeit der Vorkriegsjahre, als der Textilkaufmann Ernst Fick regelmäßig in Berlin weilte und dabei an einem Badesee Bekanntschaft mit meiner Mutter schloss. Er hatte sich in sie verguckt, machte ihr aber keine Avancen, als er erfuhr, dass sie schon in festen Händen war. Sie wurden Freunde, und Ernst Fick ging bei ihr und meiner Oma ein und aus, wenn er in Berlin war. Er unterstützte jüdische Familien, deren Schmuck und Wertgegenstände er in die sichere Schweiz brachte. Oma und er musizierten gerne zusammen. Im Krieg riss dieser Kontakt gezwungenermaßen ab. Als Fick nach dem Krieg vorschlug, er nehme mich und meinen Bruder für je ein halbes Jahr in die Schweiz auf, schlugen Mutter und Großmutter rasch ein. Es ging uns sehr schlecht, der Alltag war zum Überlebenskampf geworden, auch Vater war damals noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Die Eltern waren schon geschieden. So kam ich für ein halbes Jahr in die Schweiz, und als ein Jahr daraus wurde, machte es mir gar nichts aus.

      Ich war wohlbehütet in einer kinderlosen, wohlhabenden Familie. Meine Mutter sei schwer krank, sagte man mir, und kurz darauf wurde mir mitgeteilt, sie sei gestorben. Da war ich sieben Jahre alt. Es vergingen nochmals sieben Jahre, ehe ich erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hatte, wohl aus Liebeskummer. Ihr Arbeitgeber, ein Zahnarzt, in den sie sich verliebt hatte, erfüllte das Versprechen seines besten Freundes, dessen Frau zu heiraten, sollte er umkommen. So war das damals. Man arrangierte sich, und manche, wie meine zu depressiven Schüben und Hysterie neigende 27-jährige Mutter, blieben auf der Strecke. So lebte ich, als ich aus der Schweiz zurückkam, bei meiner Großmutter, und es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Mein Bruder war nun dran, er ging für ein Jahr in die Schweiz, und ich hatte Oma ganz für mich. Doch dieses Glück währte nur kurz, meine Oma starb, auch sie viel zu jung, sie war gerade fünfzig geworden. So kamen ich und mein Bruder zu meinem Vater nach Frankfurt in ein hartes, entbehrungsreiches Leben, wir hatten kaum Platz, mein Bruder schlief auf einem Schrank, ich in der Küche. Die Beziehung zu Vater und seiner Frau war schwierig.

      Der Kontakt in die Schweiz blieb, die Ficks besuchten uns, und als Ernst Fick vorschlug, uns Kinder wieder für ein Jahr zu sich zu nehmen, wurde man sich rasch einig. Wir wurden nicht gefragt. Und so waren wir 1950 wieder in der Schweiz, im St. Galler Quartier St. Georgen, und wurden sofort eingeschult. Ich war zehn Jahre alt, mein Bruder acht. Wir lebten uns gut ein, und ich blieb, während mein Bruder nach einem Jahr nach Frankfurt zurückgeschickt wurde. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie es möglich war, dass ich bleiben durfte. In den Unterlagen meines Pflegevaters, der mir zum Vater wurde, fand sich nichts dazu. Er muss sie irgendwann entsorgt haben. Man hatte sich wohl mit den Behörden arrangiert.

      Ich verbrachte eine glückliche, sorgenfreie Jugend, es fehlte mir an nichts, und ich dachte keine Sekunde daran, nach Deutschland zurückzukehren. Ich habe einen Schweizer geheiratet, ich wurde Schweizer Staatsbürgerin. Wir lebten viele Jahre im Tessin und handelten mit Textilien. Kurz vor meiner Pensionierung kehrte ich allein nach St. Gallen zurück. Wir hatten uns getrennt. Der Kontakt zu meiner Familie in Deutschland war nie ganz abgerissen, aber er beschränkte sich auf das Wesentliche. Man telefonierte ab und zu und traf sich bei Gelegenheit. Als ich meinen Vater kurz vor seinem Tod in seinem 96. Lebensjahr nochmals sah, machte er mir Vorhaltungen, warum ich nicht zurückgekehrt sei, als ich volljährig wurde. Er hätte mir eine Karriere als Schauspielerin ermöglicht. Davon hatte er nie gesprochen. Ich verstand es als eine Art Reuebekenntnis, aber ich wäre auch nicht zurückgegangen, wenn er mich eingeladen hätte.

      Ein Kreis hat sich geschlossen. Es war das Rote Kreuz gewesen, das mir meinen ersten Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht hatte. Nun bin ich seit bald zwanzig Jahren ehrenamtlich als Fahrerin für das Rote Kreuz unterwegs. Ich bin zufrieden und dankbar. Schweizerin im Herzen bin ich dennoch nicht geworden, auch als Deutsche sehe ich mich СКАЧАТЬ