Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Kinder auf der Flucht - Martin Arnold страница 11

Название: Kinder auf der Flucht

Автор: Martin Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9783858698902

isbn:

СКАЧАТЬ überlebte mit seinen drei Schwestern und den Großeltern als Vierjähriger das Massaker einer Einheit der deutschen Waffen-SS in seinem Heimatdorf, bei dem seine Eltern und viele Verwandte ermordet wurden. 1949 wurde er in die Schweiz ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen aufgenommen, er erwarb die Maturität, wurde später Physiklehrer und Entwicklungshelfer. Er schrieb Gedichte, Essays und Zeitungsartikel und übersetzte moderne griechische Lyrik ins Deutsche. 1994, zum 50. Jahrestag des Massakers, organisierte er eine internationale »Tagung für den Frieden« in Delphi. Später reichte er mit seinen Schwestern verschiedene Klagen in Deutschland ein zur Entschädigung der Opfer und löste damit eine bis heute andauernde Debatte über Kriegsschuld und Verantwortung aus.

      Stefan Haupt im Dokumentarfilm Ein Lied für Argyris (2006) und Patric Seibel im Buch Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals (2016) haben seine Lebensgeschichte erzählt.

      »Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«

      Die Aula des Gymnasiums am Münsterplatz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Basel und Lörrach haben sich versammelt. Vorne sitzt Shlomo Graber, ein alter, leicht gebückter Mann mit schlohweißem Haar und wachem Blick. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Graber, der bis zur Deportation nach Auschwitz 1944 mit seiner Familie in Ungarn gelebt hatte, spricht in einem weichen Deutsch mit jiddischem Akzent. Mit klarer, nie brechender Stimme erzählt er eine Dreiviertelstunde vom Grauen des Vernichtungslagers, von seiner Mutter und den Geschwistern, die sich vor seinen Augen an sie klammerten, als sie an der Rampe ins Gas geschickt wurden, von seinem Vater, der mit ihm zur Zwangsarbeit nach Görlitz deportiert wurde, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen überlebten, und von der jungen deutschen Mutter in der nach Kriegsende praktisch menschenleeren Stadt Görlitz, mit der er sein Brot teilte, weil er, wie er sagt, »nicht hassen wollte«.

      Nein, sein Überleben sei weder Schicksal noch Gottes Fügung gewesen, antwortet Graber auf die klugen Fragen der jungen Leute, deren Generation man doch so gern nachsagt, sie sei oberflächlich und desinteressiert. »Ich habe entschieden, mir selbst zu helfen, und so habe ich überlebt.« Er sei streng orthodox erzogen worden. In dieser Welt nahe am Aberglauben habe schon das Fallenlassen eines heiligen Gegenstandes genügt, um einen Tag des Fastens einzulegen. »Als den Juden in unserem Dorf befohlen wurde, das Nötigste zu packen, hat ein gläubiger Jude ein heiliges Gebetstuch eingepackt. Als ein SS-Offizier dies sah, riss er es ihm aus der Hand und warf es auf den Boden. Nichts geschah weiter. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Es kann keinen Gott geben, wenn er das zulässt.« Er sei später aus Tradition regelmäßig in die Synagoge gegangen. Aber die Entscheidung, welchen Glauben seine Kinder annehmen wollen, habe er ihnen überlassen. »Jeder Mensch soll nach seiner Religion leben.«

      Drei Jahre hat Shlomo Graber an seinen Erinnerungen geschrieben. Mehr als dreißig Minuten pro Tag seien nicht möglich gewesen, erinnert sich seine Frau. Dann sei er jedes Mal für einen langen Spaziergang verschwunden. Von einer Gymnasiastin nach den Beweggründen gefragt, berichtet er von einem Zeitungsinterview in Israel, wo er vierzig Jahre gelebt habe, zur Shoa. »Es erschien auf der Titelseite. Meine Kinder warfen mir vor, ich hätte ihnen nie davon erzählt. Das stimmte. Ich hatte wohl nie verschwiegen, dass ich im Konzentrationslager war, aber das Grauen, das wollte ich meinen Kindern ersparen. Ich versprach ihnen, meine Geschichte aufzuschreiben. Das gelang mir erst Jahrzehnte später, in der Schweiz, wohin ich übersiedelt war.«

      Nach Israel sei er gegangen, »weil ich ein Staatsbürger sein wollte. Mit allen bürgerlichen Rechten und in Freiheit. Diese Rechte gewährte mir der Staat Israel.« Das hatte seinen Preis. Es galt über Jahre ein »Gebot des Schweigens«. Der Aufbau des Staates sei wichtig gewesen, nicht die Vergangenheitsbewältigung. »Und manchmal sahen wir Überlebenden uns dem Vorwurf ausgesetzt, wir hätten uns nicht gewehrt. Wie hätte ich das tun sollen? Ich war auf dreißig Kilo abgemagert.« Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann habe ein großes Umdenken bewirkt. Ein Schüler will wissen, ob es im Lager Freizeit gab. Graber antwortet kurz angebunden. »Nein. Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger.«

      Ob er seine Jugend nachgeholt habe, möchte ein Schüler wissen. »Nein. Das war gar nicht möglich. Ich hatte nur sechs Jahre eine Schule besucht und musste später alles nachholen. Für anderes gab es gar keine Zeit. Ich hatte ein Ziel: ein normales Leben zu führen.« Er habe keine Jugend gehabt, und darum erzähle er der heutigen Jugend davon. »Die Jugend ist die Zukunft, und ich mag die jungen Leute. Ich wünsche mir, dass ihr es weiter erzählt.«

      Ob man sich bei ihm entschuldigt habe, wird Graber gefragt. Seine Antwort ist unmissverständlich. »Offiziell nie, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der mich zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen hatte, entschuldigte sich nicht. Eine junge Frau bat mich um Entschuldigung. Ich wies sie zurecht. Sie habe damit nichts zu tun.«

      Shlomo Graber hat die Shoa und die Zwangsarbeit als Jugendlicher überlebt. In seinem Buch Der Junge, der nicht hassen wollte legt er ein erschütterndes Zeugnis ab. Er lebt in Basel.

      »Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«

      Gut und gern einen Regalmeter füllen die wissenschaftlichen Publikationen des Immunologen Ivan Lefkovits. Es ist sein Lebenswerk. Der ruhige, sich stets etwas zurückhaltend gebende Mann teilt sein Büro am Basler Institut für Immunologie seit Jahrzehnten mit einem Kollegen. Die beiden haben sich versprochen, dass jener, der zurückbleibt, die Bleistiftskizze des anderen an die Wand des kleinen Büros in der Basler Altstadt hängen wird. Dort reihen sich die anderen Fachkollegen, die den »unvermeidlichen Weg« schon gegangen sind.

      In einem schmalen, 2016 erschienen Bändchen erzählt der 80-jährige aus seinem anderen Leben. Es trägt den Titel Bergen-Belsen. Vollendet – unvollendet und ist Teil der 15 Lebensgeschichten umfassenden Reihe »Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden«. Levkovits hat sie herausgegeben. »Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht.« Ein Zürcher Kollege schrieb ihm eine E-Mail, nachdem er in einer internen Zeitschrift der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH davon gelesen hatte. »Ich wollte kein Mitleid, gerade in beruflichen Dingen nicht. Meine Leistungen sollten zählen. Und sonst nichts.« Und so schwieg Ivan Lefkovits über die schrecklichen Jahre als Kind mit seiner Mutter im Konzentrationslager, so wie er auch als Jugendlicher verstummte, wenn er in die Augen einer Freundin seiner Mutter sah, deren ganze Familie, auch ihr Sohn, der so alt war wie Ivan, in der Gaskammer ermordet worden war. »Sie war immer höflich, aber es schien mir, dass sie meinen Anblick nicht ertrug. Sie sah ihren Sohn in mir. Und so sprachen wir nie darüber, was geschehen war.« Die Kerzen an den Geburtstagen des Bruders, der ermordet worden war, und am Tag der Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen brannten den ganzen Tag. »Diesen Tag beging meine Mutter noch während Jahren zwei Tage später, am 17. April, als wir nach elf Tagen erstmals wieder Wasser tranken und etwas aßen.« Das Unaussprechliche blieb auch bei dieser Gelegenheit ungesagt. Heute werde er bei Schulvorträgen gefragt, was schlimmer gewesen sei, der Hunger oder der Durst. »Das gehört eigentlich in den Biologieunterricht, aber solche Fragen zeigen mir, dass es unmöglich ist, zu begreifen, was damals geschah. Es geht mir, der ich dieses Grauen erlebt und überlebt habe, eigentlich nicht anders. Doch das darf nicht bedeuten, darüber zu schweigen.«

      Ivan Lefkovits machte eine feine akademische Karriere. Er begann sie in der kommunistischen Tschechoslowakei und setzte sie später praktisch nahtlos fort, als er 1967 dem Land aus politischen Gründen für immer den Rücken kehrte. Er sei stets ein scharfer Kritiker des Sozialismus gewesen und habe mit dieser Meinung auch nie hinter dem Berg gehalten. Doch über die Shoa, von der er sein erschütterndes Zeugnis hätte ablegen können, schwieg er während Jahrzehnten. Sein glühender Antikommunismus СКАЧАТЬ