Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
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Название: Kinder auf der Flucht

Автор: Martin Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783858698902

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СКАЧАТЬ Vernets überstellt worden ist, nach einer Intervention bei Verantwortlichen der Vichy-Regierung aus dem Lager retten. Alle wissen, was die Jugendlichen erwartet hätte: Zwangsarbeit oder Tod. Näf setzt nun alle Hebel in Bewegung, um in Bern eine Aufnahme der Bedrohten zu erwirken. Der Exekutivrat der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, das die Heime in Frankreich betreibt, schlägt dem Bundesrat vor, »eine bestimmte Anzahl« Kinder aufzunehmen. Der Diplomat Edouard de Haller soll als Mitglied des Exekutivrats und Delegierter des Bundesrats darüber wachen, dass das humanitäre Engagement mit der Schweizer Neutralität im Einklang steht. Er meint, es wäre bedauerlich, wenn der Eindruck entstehe, »das Schweizervolk und das Schweizerische Rote Kreuz ließen sich vom Gefühl des Mitleids leiten, während der Bundesrat sich widersetze«. Außenminister Marcel Pilet-Golaz macht den Vorschlägen, fünfhundert jüdische Kinder dauerhaft aufzunehmen und einigen Tausend vorübergehend den Aufenthalt zu gewähren, um ihnen eine Weiterreise in die USA zu ermöglichen, am 15. September 1942 ein rasches Ende. »Ich bin weder mit der einen noch der anderen Lösung einverstanden«, schreibt er von Hand auf ein Memorandum von de Haller. Der Wirbel »rund um dieses Problem« werde »je länger, je gefährlicher«. Es steht außer Frage, dass sich die damaligen Verantwortlichen bewusst waren, welches Schicksal die Verfolgten in Frankreich erwartete. Vergeblich. Rösli Näf und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mobilisieren nun, wie andere informelle Zirkel, ihr Netzwerk an Fluchthelferinnen und Fluchthelfern. Sie bringt einige der Jugendlichen auf abgelegenen Höfen in der Region unter und schickt andere in kleinen Gruppen los, ihren Weg in die Schweiz oder nach Spanien zu finden. Zehn schaffen es über die Schweizer Grenze. Sie kommen bei Pateneltern unter. Fünf Jugendliche verschwinden spurlos, acht tauchen in Lyon unter, um sich der Résistance anzuschließen. Insgesamt, schätzt der Historiker Jacques Picard, gelingt rund 1300 Kindern und Jugendlichen in diesen dramatischen Monaten die Flucht in die Schweiz.

      Das Schweizer Boot ist voll, wie die Situation im »Bericht der Polizeiabteilung zum Flüchtlingsproblem vom 30. Juli 1942« zum ersten Mal umschrieben wird. Am 13. August 1942, als zahlreiche von der Deportation bedrohte jüdische Geflüchtete aus Frankreich einen sicheren Hafen in der Schweiz suchten, erlässt Heinrich Rothmund, der Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, nach einem Beschluss des Bundesrats vom 4. August neue Weisungen. Danach sind alle in die Schweiz »rechtswidrig« flüchtenden Ausländer »zurückzuweisen«. Ausnahmen gelten nur für Deserteure, entwichene Kriegsgefangene, politische Geflüchtete (»Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge«, schreibt Rothmund zur Klarstellung) und französische Elsässer, die in das unbesetzte Gebiet Frankreichs gelangen wollen. Am 20. August rechtfertigt Rothmund die neuen Weisungen vor dem Zentralkomitee des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Dessen Präsident hatte sich besorgt an ihn gewandt, nachdem er erschütternde Berichte über Einzelheiten der Deportationen aus Frankreich erhalten hatte. Die Landesinteressen seien maßgebend für den Entscheid gewesen, referiert Rothmund. Denn die Schweiz sei »hinsichtlich der Juden eine Insel in Europa«. Aber man dürfe sich nicht »überlüpfen«. Noch nichts sei ihm so schwergefallen wie der Erlass vom 13. August. Es sei ihm wohlbekannt, dass Hunderttausende von Juden in Gefahr seien und dass Millionen von anderen Menschen sich in Gefahr fühlten. Die Schweiz aber sei außerstande, alle Geflüchteten aus den Nachbarländern aufzunehmen. »Besser wir sorgen für diejenigen, die bei uns sind, und suchen sie durchzuhalten.« Rothmund, angesprochen auf die »Scheußlichkeiten«, die sich bei den Deportationen ergaben, behauptet weiter, deutsche Kommissäre an der Grenze hätten ihm versichert, den Zurückgewiesenen geschähe nichts, man veranlasse sie lediglich zur Arbeit. Möglicherweise drohe eine spätere Deportation. Da aber der Zustrom immer größer werde, habe man nicht länger zuwarten können. Bundesrat Eduard von Steiger spricht in einer Rede am 30. August vom »vollen Rettungsboot«.

      21 Schülerinnen der Sekundarklasse 2c in Rorschach protestieren am 7. September 1942 in einem Brief an den Bundesrat, »dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in ihr Elend zurückstößt. Habt ihr eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat, ›was ihr einem der Geringsten unter Euch getan habt, das habt ihr mir getan?‹ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft.«

      In der Herbstsession des Nationalrats wird von Steiger am 22. September deutlicher: Der »Massenandrang« aus Frankreich habe eingedämmt werden müssen. Wollte man diesen »Schwarzeinreisen« nicht begegnen, so käme man bei einem Tagesdurchschnitt von sechzig Personen auf 22’000, während der Bundesrat immer die Ansicht vertreten habe, »eine Zahl von 6000 bis 7000« stelle ungefähr das dar, was »gerade noch tragbar« sei. Das Asylrecht wird in der Wegleitung, die der Bundesrat erlässt, als »Recht des Staates im Geiste der schweizerischen Überlieferung frei und unabhängig ausgeübt, als Gebot der Menschlichkeit, aber nicht als rechtliche Pflicht«. Die Behörden hätten die Pflicht, »auch bei grundsätzlicher Hochhaltung des Asylgedankens durch geeignete Maßnahmen den Zustrom in tragbaren Grenzen zu halten, auch wenn dabei heimlich eingereiste Flüchtlinge wieder zurückgeschickt werden müssen«. Das Votum von Nationalrat Albert Oeri, es sei nicht zu rechtfertigen, »gleichsam auf Vorrat, das heißt aus Furcht vor dem, was noch geschehen könne, grausam zu sein«, geht im zustimmenden Kanon der Parlamentsmehrheit unter. In der Bevölkerung sind die Maßnahmen umstritten, auch in der Presse häufen sich die kritischen Stimmen. »Wir fühlen uns durch die andernortes an diesen Menschen begangenen Verbrechen erst recht gedrängt, ihnen Taten der Menschlichkeit entgegenzusetzen«, kommentiert die Thurgauer Zeitung diese Flüchtlingspolitik. Am 26. September wird der Erlass etwas aufgeweicht. Danach gelten als Härtefälle, denen Aufnahme zu gewähren sei, unter anderen auch allein reisende Kinder unter 16 Jahren. Durchsetzen lassen sich diese harten Bestimmungen nur bedingt, weil es einerseits an Personal mangelt und anderseits das Gebot der Menschlichkeit viele Zoll- und Polizeiorgane milde handeln lässt. Wer es einmal ins Landesinnere geschafft hat, wird in aller Regel nicht mehr zurückgeschickt.

      Das Rorschacher Sekundarschulmädchen Heidi Weber, das den Protestbrief an den Bundesrat verfasst hatte, wird am 23. Oktober auf Geheiß des Bundesrats vom Rorschacher Schulratspräsidenten »verhört«. Heidi nimmt Stellung zu ihren Beweggründen, nimmt ihren Lehrer in Schutz, der vom Brief zwar gewusst, diesen aber nicht gelesen habe, und wird schließlich in die Rolle des naiven Mädchens gedrängt, das gar nicht wissen könne, was es da tue. Ein Passus im Brief, in dem davon die Rede ist, es könne ja sein, dass der Bundesrat den Befehl erhalten habe, keine Juden mehr aufzunehmen, was überall zu hören sei, wird ihr als »schwere Beleidigung« ausgelegt, gegen die sich der Bundesrat zu Recht beklage. »Denn es ist ein starkes Stück, dass da ein paar junge, unerfahrene Mädchen, die kaum wissen, was überhaupt für das Leben notwendig ist, glauben, dem Bundesrat in Bern Lehren erteilen zu müssen, diesen Männern, die Tag und Nacht arbeiten, die sich keinen Feierabend, keinen Sonntag, überhaupt kaum Ruhe gönnen, die dafür sorgen, dass ihr Realschülerinnen ruhig und sicher wohnen und zur Schule gehen könnt …«

      Bis Ende Dezember 1942 steigt die Zahl der Geflüchteten in der Schweiz auf 16’200, von denen mehr als die Hälfte zwischen dem 1. August und dem 31. Dezember 1942 eingereist sind. Die Grenzschließung lässt sich nicht vollständig durchsetzen. Die Weisungen werden am 29. Dezember deshalb wieder verschärft. Neu gilt ein Gebietsstreifen von zehn bis zwölf Kilometern als »Grenzgegend«, aus dem Geflüchtete von den Grenzorganen »zurückzuweisen« seien.

      Hugo Remund, seit 1941 Chefarzt des SRK, setzt ab 1942 eine neue Doktrin des Bundesrats um, wonach die Arbeit der privaten, von mehreren Hilfswerken getragenen »Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder« zur Staatsaufgabe werden soll. Gleichzeitig will die Regierung sich mit den fremden Federn des 1940 gegründeten Hilfswerks schmücken, das seit Kriegsausbruch mit großem Engagement in Vichy-Frankreich mehrere Flüchtlingsheime, unter ihnen auch Schloss de la Hille, betreibt. Rösli Näf leitet das Heim seit Mai 1941. Es kommt, von Remund orchestriert, am 1. Januar 1942 zur Fusion zum »Schweizerischen Roten Kreuz, Kinderhilfe«. Remund wie Haller achten peinlichst genau darauf, dass dieses Liebeswerk im engen Rahmen der bundesrätlichen Vorgaben bleibt, die die Staatsräson vor die Mitmenschlichkeit stellen.

      Heimleiterin СКАЧАТЬ