Название: Kinder auf der Flucht
Автор: Martin Arnold
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783858698902
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In Château de la Hille geht das Leben 1943 für die verbliebenen Kinder und Jugendlichen unter immer schwierigeren Bedingungen weiter. Jederzeit ist mit neuen Deportationen zu rechnen. Einige der Jugendlichen sind in der Umgebung untergebracht, auf dem Schloss hat man ein mündliches Alarmsystem abgesprochen, für den Notfall wird ein Versteck im Zwiebelkeller vorbereitet. Walter Strauss, der kurz zuvor seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, wird trotz dieser Vorkehrungen zusammen mit vier weiteren Jugendlichen am 14. Februar nach einem hinterlistigen Täuschungsmanöver französischer Polizisten festgenommen und in ein Deportationslager gebracht. Ein Brief erreicht eine Woche später Inge Joseph, vermutlich aus einem Deportationszug geworfen. Er sei im Frieden mit sich selbst, seit er entschieden habe, »zu bleiben«. Ein zweiter Brief kommt Ende Mai 1943 aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin in Polen. Es ist Walters letzte Nachricht: Er sei bei »bester Gesundheit«. Inge, die Walter gut kennt, geht davon aus, dass er, um den Brief durch die Zensur zu bringen, das eine geschrieben hat – aber das andere meint. Später erfährt sie von einer Schweizer Rotkreuz-Helferin, er habe ihr Angebot, die Gruppe in Rotkreuz-Kleidung aus dem Lager zu schleusen, abgelehnt. Er werde nicht nochmals das Leben anderer riskieren. Inge Joseph, die durch das Fenster der Freiheit geschritten ist, wird ihren Freund, der dieses Fenster geschlossen hat, nie wiedersehen.
Inge Joseph kann im Frühjahr 1943 mit gefälschten Papieren bei einer Familie in Toulouse untertauchen. Im Herbst 1943 wagt sie mit Unterstützung von Rotkreuz-Helferinnen einen neuen Fluchtversuch in die Schweiz. Diesmal ist sie allein und gut instruiert. Sie schafft es über die Grenze und, geführt von einem Fluchthelfer, über die Grenzzone hinaus. Inge ist gerettet. Beinahe. Denn nach wie vor gilt die Direktive, jüdischen Geflüchteten grundsätzlich die Aufnahme zu verwehren. Und Inge ist inzwischen 18-jährig. Damit gilt eine am 14. Juli 1943 eingeführte Lockerung, dass jüdische Mädchen bis zum 18. Lebensjahr aufgenommen werden, nicht mehr. Sechs Wochen noch, so empfehlen es ihr ihre Helfer, müsse sie sich versteckt halten. Inge verbringt einige friedvolle Wochen auf einem Bergbauernhof in Hohfluh im Berner Oberland. Danach hat sie nichts mehr zu befürchten. Sie wird offiziell registriert. Ein dauerndes Bleiberecht hat sie, wie alle Geflüchtete in der Schweiz, nicht. Sie kommt auf einem Bauernhof in Gampelen unter. Kurz darauf konvertiert sie, auf Bitte ihrer Retterin und voller Dankbarkeit, zum lutheranischen Protestantismus und wird konfirmiert. Auf allen Papieren, die sie später ausfüllt, gibt sie an, sie sei Jüdin. Nur den Christbaum wird sie zeit ihres Lebens an Weihnachten schmücken. Doch der Glaube bedeutet ihr nichts, weil er ihr nichts bietet, vor allem keine Erklärung für all den Schrecken, den sie erfahren hat.
In den Wirren der letzten Kriegstage weichen Zehntausende in die Schweiz aus, um den Kämpfen und dem wachsenden Chaos zu entgehen. Sie bleiben meist nur wenige Tage und kehren zurück, sobald es die Lage erlaubt. Die offizielle Schweiz unterstützt sie in einer Großzügigkeit und mit einem Mitgefühl, die man sich in den Jahren zuvor gewünscht hätte. Das Image des sich seiner humanitären Tradition rühmenden Landes ist vor allem bei den alliierten Siegermächten arg ramponiert. 1944, nach der Befreiung Frankreichs, waren die kritischen Stimmen von zurückkehrenden Geflüchteten über ihre Behandlung in der Schweiz nicht mehr zu überhören gewesen. Schon im Dezember 1943 hatte Ständerat Ernst Speiser in einem Brief an den Bundesrat die Schaffung einer überparteilichen und gesamtschweizerischen Aktion zur Nachkriegshilfe angeregt. Diese sei eine »menschliche und moralische Verpflichtung«. Bundesrat Marcel Pilet-Golaz antwortete umgehend: »Das Problem, das Sie beschäftigt, ist außerordentlich komplex, zugleich politischer, wirtschaftlicher, finanzieller und humanitärer Art.« Er solle doch persönlich bei ihm vorbeikommen. In den folgenden Monaten reift in zahlreichen Sitzungen und Besprechungen nach und nach das Projekt der »Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten«, die »einzig Ausdruck der Menschlichkeit« sein soll »und nicht das Ziel verfolgt, aus der Beteiligung am Wiederaufbau Europas materiellen Nutzen zu ziehen«. 200 Millionen Franken sollen dafür von Bevölkerung und Bund gemeinsam aufgebracht werden. Es ist eine enorme Summe, die rund einen Drittel der geplanten Ausgaben des Bundes für das Jahr 1945 ausmacht. Sie entspricht heute rund einer Milliarde Franken und damit in etwa der Kohäsionsmilliarde, die die Schweiz den zehn neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in den Jahren 2007 bis 2018 als »Erweiterungsbeitrag« leistete. Mit einer professionellen Werbekampagne, in die Medien, Hilfswerke und Künstler eingebunden sind, gelingt es, unter dem Slogan »Unser Volk will danken« in nur zwei Monaten 50 Millionen Franken zu sammeln. Zu Kriegsende ist der finanzielle Topf prall gefüllt. Schon in den letzten Monaten ist in den ersten befreiten Gebieten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden erste Nothilfe geleistet worden. Die Schweizer Spende ist eine Wiedergutmachung und eine wohlmeinende Geste gegenüber den Alliierten, ohne dass dies je direkt angesprochen worden wäre. So ließ es sich, wie im Vorwort des 1949 erschienen Tätigkeitsberichts der Schweizer Spende, von »der Natur unseres Volkes« schwärmen, »dass wir als unbeteiligte Dritte versuchten, zu helfen, zu lindern und zu retten«.
Tatsächlich wird von der Schweizer Spende viel geleistet, zu Beginn vor allem medizinische Nothilfe und Lebensmittel, später auch Kleidung, Obdach, Unterstützung beim landwirtschaftlichen Wiederaufbau, Bildung und Kultur. Der Schwerpunkt liegt über die knapp vier Jahre hinweg rund zur Hälfte bei Leistungen, die direkt Kindern zugutekommen. Dazu zählt die Tradition der Kinderzüge, die nun in steigender Zahl in die Schweiz rollen und nicht mehr länger einer privaten Finanzierung bedürfen. An der Politik der allerhöchstens vorübergehenden Aufnahme von Geflohenen hält der Bundesrat aber eisern fest. Das zeigen exemplarisch die »Buchenwaldkinder«. Am 1. Mai 1945 war Rodolfo Olgiati, Generalsekretär der Schweizer Spende, nach Versailles ins Hauptquartier der Alliierten gereist, um zu eruieren, inwieweit die Schweizer Spende mit der alliierten Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung UNRRA kooperieren könnte. Einen Beitritt hatte der Bundesrat aus neutralitätspolitischen Überlegungen ausgeschlossen. Millionen von Vertriebenen, sogenannte displaced persons, müssen ernährt, untergebracht und medizinisch versorgt werden. Als die UNRRA vorschlägt, die Schweiz könnte vertriebene, staatenlose Kinder aufnehmen, läuten in Bern die Alarmglocken. Denn niemand denkt ernsthaft an eine dauerhafte Aufnahme, und gerade bei staatenlosen Kindern wäre es schwierig, »diese wieder loszuwerden«, wie es in einer Aktennotiz heißt. Und so schlägt wiederum die Schweizer Spende der UNRRA nach einem guten Monat des internen Streits vor, bis zu 2000 Kinder aufzunehmen, unter anderem unter der Voraussetzung, dass diese nicht älter als zwölf Jahre seien, aus Deutschland stammten und befristet für ein halbes Jahr, maximal aber 18 Monate aufgenommen würden. Das UNRRA antwortet rasch und ersucht, 350 13- bis 16-jährige Kinder aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald aufzunehmen. Widerwillig wird dem Gesuch schließlich stattgegeben. Man möchte es sich mit den Alliierten nicht gleich zu Beginn der Zusammenarbeit verderben. Die übrigen 1650 Kinder, deren Aufnahme man angeboten hat, müssten dann auf jeden Fall unter zwölf Jahre alt sein.
Am 23. Juni 1945 trifft der Zug aus Buchenwald ein. Und wieder kommt Ungemach auf die Bürokraten der Schweizer Spende zu. Denn im Zug sitzen 374 junge Menschen, von denen mehr als die Hälfte älter als 17 Jahre sind. Alle sind Juden. Und wieder bleiben nur das Zähneknirschen und ein politischer motivierter Entscheid. Es sei »von СКАЧАТЬ