Kinder auf der Flucht. Martin Arnold
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Название: Kinder auf der Flucht

Автор: Martin Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783858698902

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СКАЧАТЬ im Rahmen meiner Maturaarbeit befragte. Mein Thema war Resilienz, die Fähigkeit des Menschen, eine traumatische Erfahrung zu überwinden. Ich war in einem Artikel darauf gestoßen, ohne dabei an meinen Großvater zu denken. Erst nach und nach, in Gesprächen mit meinen Eltern und meiner Tante, entwickelte sich die Idee, dieser Frage am Beispiel von Überlebenden der Kindertransporte nach England nachzugehen. 10’000 Kinder wurden nach der ›Reichskristallnacht‹ vom 9. November 1938 bis zum Kriegsausbruch aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien gerettet, unter ihnen mein Großvater.

      Ich hatte einen Fragenkatalog vorbereitet, und mein Großvater stand mir Rede und Antwort. Er schilderte genau, was geschehen war, doch immer dann, wenn es mir darum ging, etwas über seine Gefühle zu erfahren, da verstummte er, oder er wich aus in Details, ohne dabei zu verraten, wie er sich gefühlt haben mochte, als er in letzter Minute sein geliebtes Akkordeon, seinen ersten wirklichen Besitz, in den Händen seines Bruders zurücklassen musste, weil nur ein Gepäckstück auf dem Transport erlaubt war. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis er sich wieder eines gekauft hat. Aus der Resilienzforschung ist dieses Schweigen über die Gefühle bekannt. Es ist der Schutzmantel, den manche Traumatisierte tragen, tragen müssen, um in ein normales Leben zu finden.

      Die jüngere Schwester meines Großvaters, die die Kriegsjahre auch in England überlebt hat, brach alle Brücken zu ihrer Vergangenheit ab. Sie kehrte im Gegensatz zu ihrem Bruder, der regelmäßig in seiner Geburtsstadt Berlin weilte und mir auch die Stätten seiner Kindheit gezeigt hat, nie mehr nach Deutschland zurück, sie legte ihren jüdischen Glauben ab, und sie blieb kinderlos. Gerne hätte ich von ihr erfahren, was sie dazu bewegt hat. Doch ihr Schweigen bricht sie nicht. Mein Großvater sprach dann doch noch über seine Gefühle. Je älter er werde, desto mehr bedrücke ihn das Trauma seiner Kindheit. Er wache jeden Morgen mit Gedanken an seine Familie auf, erzählte er mir unter Tränen. Die Forscherin in mir wusste auch dafür eine Erklärung. Ein Trauma lässt sich niemals überwinden. Resilienz heißt nur, einen Weg zu finden, damit zu leben. Klaus Appel, dieser gute Mensch, der in seinem Leben immer für andere da war und dabei auch sich selbst etwas aus dem Weg ging, fand in seinen letzten Jahren, als die Kräfte nachließen, wieder näher zu sich, im Guten und im Schlechten. Doch das ist die Sprache der Wissenschaft. Die Enkelin, sie hat mit ihrem Großvater geweint.«

      Naara Appel, Jahrgang 1998, lebt im Kanton Genf.

      Klaus Appel, der aus England kommend in den frühen 1950er Jahren zu seiner Frau in die Schweiz übergesiedelt war, starb am 13. April 2017, einen Monat vor seinem 92. Geburtstag. Aus seinem Leben berichtet er in seinem Buch Eines Morgens waren sie alle weg!, das im Rahmen der Reihe » Mit meiner Vergangenheit lebe ich. Memoiren von Holocaust-Überlebenden« 2016 erschienen ist. Das Buch wurde von Schülerinnen und Schülern einer Bieler Schulklasse ins Französische übersetzt, denen Klaus Appel noch kurz vor seinem Tod im Gespräch Fragen beantwortet hatte. Er konnte kaum mehr selber sprechen. Seine Enkelin, die damals 19-jährige Naara Appel, lieh ihm ihre Stimme. Auf die Frage nach den Auswirkungen seiner Kindheit auf sein heutiges Leben antwortete er: »Seid nachsichtig miteinander und genießt das Leben.« Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.

      »Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«

      »Von Assimilation hat man früher in der Schweiz gesprochen, wenn es um Ausländer ging, die sich dauerhaft niederließen. Gemeint war damit die praktisch vollständige Aufgabe jeglicher Identität aus der alten Heimat, und das eigentliche Ziel, die Schweizer Staatsbürgerschaft, war nur für jene zu erreichen, die zu dieser absurden Selbstenteignung bereit waren. Ich war es nicht, und ich hatte zu meinem Glück auch immer Fördererinnen und Förderer, die mir unabhängig von meiner Herkunft beistanden und mir berufliche Wege ermöglichten, die mir eigentlich verschlossen sein sollten. Als griechisches Waisenkind zählte ich 1949 zur ersten Generation, die im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen Aufnahme fanden, um hier zur Schule zu gehen und eine Berufslehre zu machen. Danach hätte ich wie alle anderen zurückkehren sollen. Das war die Bedingung der Eidgenössischen Fremdenpolizei von 1944, als Walter Robert Corti die Idee von einem internationalen Kinderdorf für Kriegswaisen aus ganz Europa publizierte. Doch ich strebte nach einer höheren Bildung, und diese wurde mir tatsächlich ermöglicht. Ich studierte Physik an der ETH und blieb in der Schweiz.

      Meine Aufenthaltsbewilligung wurde jährlich erneuert. Nach zwanzig Jahren, zehn davon im Kanton Zürich, wies mich eine Verwaltungsangestellte darauf hin, dass ich mich nach geltendem Ausländerrecht um die Niederlassung und danach um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewerben könne. Das tat ich dann auch. Der zuständige Beamte der Stadt Zürich vertröstete mich jahrelang, genoss aber sehr seine Allmacht, indem er demonstrativ beim routinemäßigen Gespräch mein Dossier, das jeweils schon ganz oben am Stapel lag, herausnahm, um es dann ganz unten wieder einzufügen. Ich müsse noch warten, beschied er mir, natürlich ohne jede Begründung. Es war die reine Willkür. Und es war klar, dass die Verweigerung der baldigen Einbürgerung mit meinem politischen Engagement gegen die Militärdiktatur in Griechenland zu tun hatte. Wäre ich gegen eine linke Diktatur engagiert gewesen, so hätte dies meine Einbürgerung beschleunigt. Aber in Griechenland herrschte eine von der NATO unterstützte rechtsextreme Militärdiktatur. Jeglicher Widerstand wurde blutig niedergeschlagen, die Gefängnisse waren überfüllt mit politischen Gefangenen. Der zivile Widerstand eines Griechen, der seit seinem neunten Lebensjahr in der Schweiz lebt und sich nun um die Schweizer Staatsbürgerschaft bewirbt, war offensichtlich in jener Zeit des Kalten Kriegs Grund genug für politische Missverständnisse in den Beamtenköpfen, um so mein Anliegen auf Einbürgerung auf die lange Bank zu schieben. Ich hätte politischen Verrat an meiner Heimat, aber auch an meinem Schweizer Demokratieverständnis begehen müssen, um schneller Schweizer zu werden. Es gab trotzdem auch Schweizer, die gerade meinen Kampf um die Rückkehr der Demokratie in Griechenland als Beweis für eine genügende Integration in der Schweiz und in ihr politisches System ansahen.

      Damals sprach der Philosoph Theodor W. Adorno von der Notwendigkeit einer Entbarbarisierung der Schulen. Denn Europa habe es nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verpasst, Nationalismus, Intoleranz und Kulturchauvinismus zu überwinden. Er plädierte für eine wertfreie Schule, die allen dieselbe Möglichkeit verschaffe, sich zu entfalten. Ich habe mich später in meiner Tätigkeit als Kantonsschullehrer sehr für eine Schule engagiert, die diese Spaltung für die Ausländer der zweiten Generation verhindert, die es ihnen erlaubt, unverkrampft in beiden Kulturen zu Hause zu sein. Damals ging es unter anderem um einige Unterrichtsstunden in der Muttersprache im Stundenplan der offiziellen Primarschulen, als Anerkennung des Rechts auf kulturelle Gleichberechtigung. Es war ein Anfang. Und auch wenn sich seither viel getan hat, zweifle ich, ob wir auf der politischen Bühne wirklich viel weiter gekommen sind. Denn im Kern geht es doch darum, von den ausländischen Mitbürgern nicht nur zu verlangen, sich zu integrieren, sondern dies auch im Geiste unserer Verfassung zu tun, die gerade die kulturelle Vielfalt zum Maßstab der Gesellschaft macht. Dann sprechen wir nicht mehr von einem Ausländer-, sondern von einem Minderheitenproblem mit ganz anderen Lösungsansätzen. Dazu zählt unter anderem auch die Teilnahme an der Entscheidungsfindung, im Klartext: Es geht um die Bürgerrechte. Sie müssen das Ziel der Integration sein. Integration bedeutet für mich deshalb, diese Bürgerrechte nicht nur zu kennen, sondern sie auch auszuüben. Voraussetzung dafür ist es, sich mit der Politik seiner neuen Heimat praktisch auseinanderzusetzen. Eine wahre Integration kann sich nicht nur auf theoretische Kenntnisse elementarer Gepflogenheiten oder der Landessprache alleine beschränken. Bürgerrechte bedingen auch die Ausübung der Bürgerpflichten.

      Ich habe den Schweizer Pass 1973 schließlich doch noch erhalten. Es war für mich auch aus einem ganz anderen Grund eine vitale Frage: Da mein griechischer Pass aus Schikane der Diktatoren seit Jahren nicht mehr verlängert wurde, konnte ich erst jetzt wieder frei reisen. Ich lebe nun gleichzeitig in zwei Welten und in zwei Kulturen: in Griechenland, wo ich geboren bin, wo meine Verwandten leben, und in der Schweiz, dem Land, das mich in kritischer Zeit aufgenommen und mir dieses zweite Leben ermöglicht hat. Es ist nicht unbedingt immer einfach – aber ich möchte keine dieser СКАЧАТЬ