Название: Ich bin, was ich bin
Автор: Claudio Honsal
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783902998064
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Ein anderer Fall ging mir an die Substanz, ich darf gar nicht daran denken. Der Name des Jungen tut nichts zur Sache, aber den Grund seines Aufenthaltes in der Klinik werde ich nie vergessen: Aus Eifersucht hatte er seinen Bruder im Affekt erschlagen. Weder an den Ort noch an den Zeitpunkt, Hergang oder das Motiv konnte sich der 16-Jährige erinnern. Aber der talentierte, zuvorkommende Jugendliche hatte die Tat eindeutig begangen und war völlig verstört in die Psychiatrie eingewiesen worden. Schwierig für mich war, dass dieser vermeintliche Gewalttäter ein sehr inniges und freundschaftliches Verhältnis zu mir aufbaute und mich als seinen älteren Bruder betrachtete. Ich war in einer emotionalen Zwickmühle, denn auch ich hatte ihn lieb gewonnen. Nur wer konnte garantieren, dass dieser liebevolle Mensch nicht irgendwann, draußen in der Freiheit, wieder ein Blackout haben würde? War es möglich, ihn zu heilen, herauszufinden, was ihm fehlte, was ihn zu der Bluttat veranlasst hatte? Nächtelang sind mir diese Fragen durch den Kopf gegangen und haben mich wach gehalten.
In meinem kargen Einzelzimmer gleich im Gebäude neben dem Institut mit Blick aus dem Fenster auf die hohen Mauern, die das Institutsgelände umgaben, wurde ich selbst zum Gefangenen, freiwillig zum Eingeschlossenen, denn in der Zeit des Zivildienstes habe ich meinen neuen Arbeitsbereich nur selten verlassen. Ich war ein Teil dieses wichtigen Ganzen und genoss lieber die Gesellschaft meines Kollegen Klaus, als in den Ort oder zu meiner Familie zu fahren. Unsere Freizeit war ohnehin spärlich, und wir versuchten, uns durch Musizieren, durch Berichte über Urlaubserlebnisse abzulenken, wenn wir uns nicht ohnedies über gemeinsame Patienten austauschten.
Es wäre nicht weit gewesen zu meinen Eltern und zu meinem Bruder Wolfgang, aber ich war froh, der Familie entronnen zu sein und mein Leben so zu führen, wie ich es zu diesem Zeitpunkt für richtig hielt. Selten nahm ich meinen alten Renault 4 mit seiner unvergleichlichen Revolverschaltung, der ich manchmal heute noch nachtrauere, in Betrieb. Manchmal setzte ich mich auf mein Fahrrad, drehte eine Runde und machte einen Anstandsbesuch bei der Familie. Das gehörte sich eben, aber mir war klar, dass mein Privatleben hintanstehen musste. Zu wichtig und spannend war mein neues Aufgabengebiet für mich.
Die Balance zwischen Zuneigung und Abstand, die Gratwanderung zwischen persönlichem Mitgefühl und professioneller Distanz zu den Patienten habe ich gelernt. Dieser Schutzmechanismus hat mir bis heute so manch guten Dienst erwiesen. Ich betrachte es als nachhaltige Lehre für meinen späteren Umgang mit Fans, mit Medien, mit vermeintlichen Freunden. In meinem jetzigen Beruf kann ich anders auf Menschen zugehen und bin dank dieser Ausbildung, vielleicht unbewusst, erst gar nicht in gefährliche Situationen gekommen.
Damals habe ich mich über kunsttherapeutische Lehrgänge und weiterbildende, praxisbezogene Studien erkundigt. Denn eines ist mir in dieser mehr als zweijährigen psychologischen Lehrzeit klar geworden: Würde ich je einen sozialen Beruf anstreben, dann nur praxisorientiert. Nicht als Theoretiker, der zuerst ein jahrelanges Studium der Psychologie absolvieren muss, sondern als Erzieher oder Pfleger, direkt eingebunden in den täglichen Betrieb. So hätte ich mir diesen Beruf vorstellen können.
Am Ende meiner spannenden Zeit als Zivi war ich reifer und gefestigt. Was ich nicht von allen Altersgenossen und einstigen Schulkollegen behaupten konnte. Vielleicht war ich auch diesbezüglich ein Einzelgänger, denn während viele von ihnen lautstark das Abrüsten vom Bundeswehrdienst feierten, fasste ich einen ganz anderen Entschluss. Nach den vorgeschriebenen 21 Monaten verlängerte ich mein Engagement als Zivildiener um ganze drei Monate und übernahm als Urlaubsvertretung für einen Kollegen dessen Position. Mag sein, dass es eine Flucht vor dem Leben draußen war, aber es war nun mein Alltag, den ich liebte und in dem ich aufging. Ich wurde sogar zur „Aushilfskraft im Erziehungsdienst“ befördert und habe ganz gut verdient. Offensichtlich entsprach ich den Anforderungen und konnte das Team überzeugen.
Auf meinem Diplom, das mir in Form eines offiziellen Arbeitsbriefes ausgestellt wurde, krönte der Vermerk „Ausgezeichnet“ meine Zivildienstzeit in der Psychiatrie. Dementsprechend emotional und tränenreich hat sich dann auch mein Abschied von der Belegschaft und den Patienten abgespielt.
Vorstellen hätte ich mir eine berufliche Zukunft in diesem Metier schon können, aber mein Herz hatte sich längst in eine andere Richtung bewegt. Ich habe damals aus dem Bauch heraus entschieden, er hat mich bis heute gut beraten. Nach der Begegnung mit der Musicaltruppe und Annette Brückner stand meine Entscheidung fest: für die Kunst, die mich vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen und nicht mehr losgelassen hat.
Familienleben
Meine Kindheit in Hamm
Wie bin ich aufgewachsen? Was hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Fragen, die man sich erst im Alter zu stellen beginnt. Man hat uns Kinder wohlbehütet, aber gleichzeitig sehr liberal erzogen, inmitten der Atmosphäre einer typischen deutschen Kleinstadt mit knapp 60.000 Einwohnern.
Meinen Vater würde ich heute als einen strengen, konservativen Geschäftsmann beschreiben, der einen florierenden Getränkevertrieb in Hamm aufgezogen hat. Meine Mutter war eine liebevolle, weltoffene Schneidermeisterin, die zusätzlich an der Berufsschule unterrichtete.
Süß, lieb, brav und hübsch, das sind jene Attribute, die meiner Mutter, Elisabeth Kröger-Ernst, ad hoc einfallen, wenn man sie zur Kindheit ihres ältesten Sohnes befragt. Vielleicht würde sie meinen Bruder Wolfgang, der zwei Jahre jünger ist als ich, ganz anders beschreiben. Wolfgang lebt seit vielen Jahren an der Ostsee in Ahrenshoop, ist verheiratet und betreibt dort das im Norden bekannte Künstlerhotel „Seezeichen“. Ich habe leider viel zu wenig Kontakt zu ihm. Ist es die Entfernung, der Beruf, ist es unser beider Schuld – ich will und kann es nicht beurteilen.
Annette Gilles, meine Schwester, ist sieben Jahre älter als ich. Sie lebt mit ihrer Familie in Bad Schwalbach in der Eiffel, ist ausgebildete Medizinisch-technische Assistentin und in einer Kuranstalt höchst erfolgreich in der medizinischen Forschung und Fortbildung tätig. Erst kürzlich hat sie ein Fachbuch über Hämatologie auf den Markt gebracht.
Einen kleinen Bruder hat sich Annette immer gewünscht, und dann war ich plötzlich da. Sie war bitter enttäuscht, wie sie heute ehrlich erzählt: „Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mit so einem Brüderchen gleich einmal zum Fußballspielen gehen kann. Dann kam ein kleines Ding zur Welt, dem ich die Windeln wechseln musste.“
Sie war zwar vernarrt in ihren kleinen Bruder und fand ihn ganz entzückend, aber ich war eine riesige Herausforderung für sie, denn Annette musste beinahe von meiner Geburt an und vor allem während der Hort- und Schuljahre die Rolle der Ersatzmutter übernehmen. Als Kleinkind war ich der jüngere Spielgefährte und sehr stark auf sie fixiert. Doch als meine Schwester in die Pubertät kam, waren die sieben Jahre Altersunterschied mitunter ein regelrechter Keil in unserer Beziehung. Sie wollte abends weggehen und Gleichaltrige treffen, aber ich war immer da, wollte sie begleiten und nervte. Entweder quengelte ich so lange, bis ich mit ihr abends ausgehen durfte, oder wir gingen unseren Eltern so sehr auf die Nerven, dass wir beide zuhause bleiben mussten.
Unsere Mutter kommentiert die damals etwas chaotische Situation so: „Unsere Kinder mussten schon von klein auf sehr selbstständig sein. Annette, als Älteste, trug eine große Verantwortung, die sie bestens gemeistert hat.“
Wolfgang und ich bezeichneten unsere Schwester immer ganz liebevoll als Vize-Mama, denn unsere Mutter werkte entweder in der Schneiderei oder war als Ausbildnerin СКАЧАТЬ