Название: Ich bin, was ich bin
Автор: Claudio Honsal
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783902998064
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Das klingt heute hart, war aber etwas ganz Normales. Wir waren Schlüsselkinder, und als Schlüsselkind hatte man zumindest den einen Vorteil, täglich einer Hörkassette lauschen zu dürfen, bevor es an die Hausarbeiten ging – so war es ausgemacht mit unseren Eltern.
Nach meinem Termin bei Gericht vergingen einige Tage des Bangens und Hoffens. Doch schließlich kam der erlösende Brief der Zivildienstkommission. Es war wie das Bestehen des Abiturs! Eine unglaubliche Last fiel von meinen Schultern. Erleichterung pur, denn andere Anwärter aus Hamm hatten jahrelang mit der Kommission zu tun, bis ihnen endlich der Zivildienst zugesprochen wurde. Vielleicht hat es ja geholfen, dass ich im Ort nie das Image eines gewaltbereiten Raufboldes hatte, stets als lieb und brav, ja geradezu als schüchtern galt. Vielleicht hatten gerade diese Eigenschaften, für die ich mich beinahe schämte, den Ausschlag für die Befreiung vom Militär gegeben. Oft haderte ich mit mir selbst, empfand mich als langweilig, aber genau in diesem Moment war mir all das völlig egal. Ich hatte im Kampf gegen den überflüssigen Bundeswehrdienst einen ganz persönlichen Sieg errungen – ohne Gewalt, ohne Waffen – nur mit Argumenten und Überzeugungskraft.
Mein Zivildienst in der Jugendpsychiatrie
Meiner neuen Arbeit als „Zivi“ stand nun nichts mehr im Weg. Ich hatte auch schon Erkundigungen bei einem guten Freund der Familie eingeholt, der sich auf diesem Gebiet auskannte. Ich wollte in Hamm bleiben und nicht irgendwohin geschickt werden, wo gerade Not am Mann war. Gleich in der Nähe gab es das Institut für Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik, und genau da wollte ich arbeiten. Spannend, interessant, aber auch anstrengend sollte es dort sein, hatte ich mir von Kundigen berichten lassen. Ich wurde genommen, hatte eine sinnvolle Aufgabe und freute mich auf den Zivildienst, obwohl der Ersatzdienst in Deutschland damals noch als Strafe angesehen wurde, als Strafmaßnahme für das Verweigern. Das schlug sich in der Dienstzeit nieder. Dauerte der „rechtschaffene“ Dienst mit der Waffe lediglich zwölf Monate, so waren für uns Zivis, die wir in Sozialeinrichtungen tätig waren und sinnvollen Ersatzdienst leisteten, satte 21 Monate verpflichtend. So sah man uns Verweigerer damals.
Dennoch war ich glücklich, und es begann eine aufregende, arbeitsintensive und vor allem prägende Zeit. Hier wollte ich alles lernen, alles erfahren über die seelischen Krankheiten, die Verirrungen des menschlichen Geistes, die Betroffenen und die Therapien. Der schulische Zwang war abgefallen, hier musste ich nicht, hier durfte und wollte ich lernen.
Schnell begriff ich, wie wichtig es war, das Netz, dieses Gefüge von Therapeuten und Mitarbeitern, so eng zu flechten, dass keiner der Patienten auch nur ansatzweise durchschlüpfen konnte. Ich befand mich auf der Jugendpsychiatrie und hatte auch als Azubi Verantwortung zu tragen. Meine Kollegen für die kommenden beiden Jahre waren Ärzte, Psychotherapeuten und Psychiater. Meine Patienten waren verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und 20 Jahren.
Es handelte sich um eine teils offene, teils geschlossene Psychiatrie, in der man in Teams mit bis zu sechs Jugendlichen arbeitete. Für mich war es eine völlig neue Situation, die mir aber eine gewisse Geborgenheit gab, denn bislang war ich ja, wie erwähnt, als Einzelgänger und Schlüsselkind durchs Leben gegangen. Obwohl ich nur ein Lehrling war, haben mich die Fachkräfte ernst genommen und mir das auch gezeigt. Ich habe ununterbrochen Fragen gestellt, anfangs so unbedarft und naiv, dass sie den Experten vielleicht sogar Denkanstöße gegeben haben. So verliefen die ersten Wochen, in denen ich sämtliche Stationen kennen lernen durfte.
Es hat nicht lange gedauert, bis ich mich in das tägliche Arbeitsumfeld eingewöhnt hatte und verstehen lernte, wie man auf verhaltensauffällige junge Menschen zugehen und mit ihnen umgehen muss. Das Vertrauen zu den Zöglingen war schnell hergestellt, schließlich war ich selbst ein junger Mann von 20 Jahren und stand ihnen somit näher als die Ärzte, Psychiater und altgedienten Betreuer. Erleichtert wurde der Aufbau von Beziehungen durch meinen unbekümmerten, manchmal übermütigen Zugang zu den Patienten, denen man oft nicht anmerkte, welch schweres Los sie zu tragen hatten. Ich fühlte mich plötzlich als wichtiges Rädchen in diesem therapeutischen Laufwerk, das sich für mich um sechs Uhr morgens zu drehen begann und oft erst um zehn Uhr am Abend zum Stillstand kam. Müde, aufgewühlt, erschöpft, aber zufrieden mit meinem Tagewerk wanderte ich dann ins Wohnheim am Institutsgelände, das nun mein neues Zuhause war.
Das Abschalten nach einem langen Arbeitstag, das Wegschieben der Gedanken an die Patienten erlernte ich erst nach Monaten. Ich verstand lange nicht, wie man am Abend den Schalter einfach umlegen, den Fernseher aufdrehen oder noch ein Bier trinken gehen konnte, wie das meine erfahrenen Kollegen machten. Wie man sich diese private Auszeit nehmen und auch noch genießen konnte, wenn doch Probleme, Ängste und die Verzweiflung der Patienten nie aufhörten. Wir waren nur ein paar Schritte entfernt von dieser grausamen Realität, der die Betroffenen 24 Stunden ins Auge blicken mussten. Ich hatte immer ein ungutes Gefühl, kam mir nachlässig, schäbig vor. Es bedurfte intensiver Gespräche mit Kollegen, bis mir bewusst wurde, dass die Abgrenzung, das Abschalten und Loslassen notwendig sind, um den Beruf effizient und mit der nötigen Distanz auszuüben.
Das Spektrum an Krankheitsbildern war vielfältig. Eher harmlos erschienen mir Fälle von Kindern, die durch falsche Erziehung das Wort Nein nie gelernt hatten, einfache Alltagsregeln nicht akzeptieren wollten und so sozial auffällig wurden. Diese Kinder betreute man in amikaler Familienatmosphäre in einem eigenen kleinen Mikrokosmos. Das habe ich gerne übernommen, und selbst als Praktikant sah ich mich immer als ein kleines, funktionierendes Steinchen in einem großen Mosaik. Ich hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, die Psychologen und Therapeuten auf ihrem oft langen Weg mit den Patienten in Richtung Genesung zu begleiten. Eine gute Beobachtungsgabe und Offenheit waren die wichtigsten Aspekte bei der täglichen Teamarbeit.
Ich erinnere mich auch gut an weniger harmlose, ja gefährliche Situationen und Konfrontationen mit Insassen, die kompliziertere Krankenakten vorzuweisen hatten. Das war nicht immer ungefährlich für das Personal.
Da gab es zum Beispiel einen jungen Mann, der unter einer starken manisch-depressiven Störung litt und eine langwierige Lithium-Therapie absolvierte. Er randalierte häufig und es kam immer wieder zu körperlichen Angriffen auf das Personal. Für mich war das erschreckend und ungewohnt, lehne ich doch jegliche Form von Gewalt ab. Manchmal wähnte ich mich in einem schlechten Horrorfilm, wenn Patienten wie dieser junge Mann plötzlich in einer Phase ihres Leidens übermenschliche körperliche Kräfte entwickelten, keine Kontrolle mehr über ihre Handlungen hatten und ich einem solchen armen, aggressiven Wesen direkt gegenüberstand. Mit der Zeit lernte ich auch diese Situationen in den Griff zu bekommen.
Vergewaltigung, Missbrauch, schwere Traumata aus der Kindheit – jeder uns Anvertraute hatte eine schlimme Geschichte, die sich oft lange nicht zeigte. Vor allem dann nicht, wenn ich mit den Betroffenen ganz friedlich bastelte, musizierte oder mit ihnen zum Einkaufen in der Stadt unterwegs war. Da waren es ganz normale junge Menschen, unauffällig, liebenswert und zutraulich. Doch wir Betreuer durften nie vergessen, warum diese Personen in psychiatrischer Obhut waren.
Für ein Greenhorn wie mich war das nicht СКАЧАТЬ