Название: Ich bin, was ich bin
Автор: Claudio Honsal
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная психология
isbn: 9783902998064
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Ich war ein Einzelgänger und nicht gewohnt, mich in eine Horde von gleichgesinnten Schauspiel- und Gesangsamateuren einzufügen. Aber ich lernte, mich anzupassen. Was blieb mir anderes übrig? Ich hasste Vereine, nie zuvor war ich in einem Mitglied gewesen, weder im Fußballclub noch bei irgendwelchen Neigungsgruppen der örtlichen Turnvereine. Außerdem fehlten mir während meiner Schulzeit die Zeit und sicherlich auch die Muße. Erst beim Zivildienst, durch diesen gravierenden Cut nach dem Abitur, lernte ich, mir meine spärliche Zeit besser einzuteilen, mein eigenes Leben zu leben – im Wohnheim der Angestellten neben der Psychiatrie, wo ich untergebracht war, weit weg von der Familie. Ich war eben anders als viele meiner Altersgenossen. Erst jetzt wird mir das bewusst: Ich war immer schon, was ich war.
Für das in meinen Augen ungemein große Projekt, dieses Neuland an Erfahrungen, die ich sammeln konnte, das Ausleben meiner verkappten Leidenschaften, nutzte ich vornehmlich die Wochenenden – um zu lernen, zu probieren, und für Warm-ups im Turnsaal der Schule. In simplen Jogging-Klamotten studierte ich die Schritte, die Bewegungen und Lieder ein, Tanzdressen kannte man damals noch nicht. Zumindest nicht in Hamm, hier war eben alles sehr amateurhaft. Angetrieben von der ungewohnten Atmosphäre und meinem inneren Ehrgeiz hatte ich Blut geleckt. Ein Metier, das ich nicht kannte, eine Beschäftigung, die mir körperliche und geistige Befriedigung verschaffte, so habe ich jene Wochen des Trainings in Erinnerung.
Mit jedem Gedanken an diese Zeit wird die Erinnerung klarer. Mein Ziel war es, das zu perfektionieren, was jeder der 30 jungen Menschen perfektionieren wollte. Es gab keinen Star, keinen Solisten unter uns, wir waren gleichwertig. Ambitionierte Anfänger und Neo-Musicaldarsteller gaben sich die Türklinken in die Hand. Es war wie in einem Affenstall, einem Zirkuszelt, einem im Chaos versinkenden Ameisenhaufen.
Die Räumlichkeiten waren ebenso klein wie ungeeignet. Vom Zimmer, in dem wir Gesang übten, ging es in den Raum, in dem wir die richtige Körperhaltung trainierten, weiter zu den Atemtechnikübungen und zum Sprechunterricht. In einem kleinen Turnsaal unternahmen wir die ersten Gehversuche in Tanz und Ballett. Jeder Einzelne von uns durchlief diese Stationen, Wochenende für Wochenende.
Ich wollte besser sein – nicht vor den anderen, aber als ich es bisher gewesen war. Und so fragte ich Annette Brückner, ob sie mir zusätzlich privaten Tanzunterricht erteilen würde. Sie antwortete: „Ja, warum nicht!“ Sie mochte mich, glaubte, ein Talent entdeckt zu haben, das es wert sei, gefördert zu werden. Und ich wollte schon damals nicht sinnlos Zeit verplempern. Ich war sehr froh und dankbar, dass Annette sich meiner annahm, denn auch ihre Zeit war knapp.
Disziplin war nun mein oberstes Gebot, und so erhielt ich auch an so manchem Wochentag nach meinem anstrengenden Dienst noch spät in der Nacht Einzelunterricht. Das am Tag hart Verdiente steckte ich fast zur Gänze in zusätzliche Lerneinheiten, um noch besser zu werden, noch schneller voranzukommen. So konsequent wie ich waren freilich nur wenige der 30 Frischlinge im Showgeschäft, was mich ziemlich ärgerte. Wenn man schon so eine Chance bekam, musste man sie doch nutzen. Jede Sekunde! Da durfte man nicht zu spät kommen oder gar fernbleiben. Auch wenn wir keinen Pfennig für unsere Mühen bekamen, war es doch eine Chance! Der Turnsaal, die Aula, sämtliche benötigten Räumlichkeiten der Schule wurden samstags und sonntags kostenfrei zur Verfügung gestellt, die Choreografin und das ideengebende Team arbeiteten ehrenamtlich. Der Sache wegen und weil sie mit dieser Musical-Revue etwas mehr Kultur und Zeitgeist nach Hamm bringen wollten.
Während der Probenzeit geisterten immer wieder Szenen aus Fame durch meinen Kopf. Ich war mitten drin in diesem Movie, das meinen beruflichen Weg später bestimmen sollte. Zu diesem Zeitpunkt allerdings in einer noch simplen und dilettantisch anmutenden Bühnenversion dieses legendären Filmklassikers. Aus schulhaften, gruppendynamischen Situationen entwickelten wir die einzelnen Songs, die wir bei der Galavorstellung präsentierten.
Einer davon war „Aquarius“, das wohl bekannteste Lied aus dem Musical Hair. Man wählte mich aus, den Song zu interpretieren – meine Stimme, mein Auftreten, das Gesamtpaket passte –, obwohl ich doch astrologischer Schütze bin. Es gab nur ein ganz kleines Problem: Ich hatte weder von diesem Lied noch vom dazugehörigen Musical je zuvor gehört. Eine VHS-Kassette musste her. Ich studierte den Song Hunderte Male, sog ihn förmlich auf, und obwohl „Aquarius“ in der Originalversion für eine weibliche Stimme vorgesehen war, sollte ausgerechnet ich damit bravourös reüssieren.
Nach drei Monaten intensivem Gesangstraining, Ballett-, Tanzunterricht und den Proben in der Schule feierte die bunte Musical-Revue schließlich ihre Premiere im Saalbau von Bockum-Hövel, einem Ortsteil von Hamm. Über 400 Gäste saßen im Publikum, vornehmlich jene passionierten Theatergeher, die stets nach Essen, Münster oder noch weiter weg fahren mussten, um ihren Kulturhunger stillen zu können. Interessierte Kulturpendler, die man durchaus als kritisches Publikum einzuschätzen hatte, das war uns allen bewusst. Und genau vor diesem Auditorium feierte unsere Laieninszenierung Dreams on Broadway einen grandiosen Erfolg.
Ich war überglücklich und stolz. Annettes Prognose sollte sich als richtig erweisen. Meine Interpretation von „Aquarius“ wurde am lautesten beklatscht. Es war mein erster Hit!
Nur noch ein weiteres Mal führten wie im Rahmen einer Gala diese Musical-Revue auf, doch der Traum von der großen Bühne sollte mich von nun an nicht mehr loslassen.
Frühe Statements
Ich weigerte mich, mit der Waffe dem Vaterland zu dienen
Schon Jahre, bevor ich mit dem Thema Bundeswehr, also dem von Männern zu leistenden Dienst für Volk und Vaterland, konfrontiert wurde, war mir klar, dass ein Dienst mit der Waffe für mich niemals in Frage kommen würde. Gewalt hasste ich immer schon, war es im Sandkasten, im Kindergarten oder in der Schule. Die zeitgeistige Friedensbewegung, die den meisten von uns aus der Seele sprach und wichtige Denkanstöße gab, hatte das Übrige dazu beigetragen, dass ich den Militärdienst verweigerte. Es war die Zeit des Kalten Krieges, in den Klassenzimmern hingen Poster mit der provokanten Frage: „Bundeswehr, wozu? Es genügt ein Knopfdruck auf die Atombombe!“ Waffen, Krieg, Bundeswehr waren mir zuwider, passten schon damals nicht in meine Welt. Im Deutschland der 1980er-Jahre mussten Verweigerer allerdings noch sehr überzeugende Argumente vorbringen, um die strenge Kommission zu beeindrucken. Wer nicht überzeugen konnte, wanderte ins Gefängnis.
So wäre es wohl auch mir ergangen. Beim Gedanken daran läuft mir heute noch ein Schaudern über den Rücken. Für mich war es alles andere als eine alltägliche Situation, als ich in Hamm der Richterin, die in wenigen Momenten über Zivildienst oder Haftstrafe entscheiden würde, gegenübersaß und sie von meiner Anti-Kriegs- und Anti-Gewalt-Gesinnung überzeugen musste. Wochen zuvor hatte ich die schriftliche Version meiner Einwände schon abschicken müssen. Damit hatte ich kaum Probleme gehabt, da hatte ich meine Argumente schwarz auf weiß und wohlüberlegt zusammengefasst. Aber face to face mit der Richterin übermannte mich die Nervosität. Vor einem Gericht zu sitzen, das hatte etwas mit Verbrechen, mit Straftaten zu tun, obwohl ich doch nur meine humanistische Überzeugung zum Ausdruck bringen wollte.
Den Terminus „Notwehr“ im Zusammenhang mit einem militärischen Einsatz konnte und wollte ich nicht gelten lassen – also die typische Fangfrage, die selbstredend auch mir gestellt wurde. Na klar würde ich mich verteidigen, wenn mich jemand angriffe. Ich würde mich wehren, aber das um meiner selbst willen oder wenn ein Freund oder die Familie in Gefahr wäre. Aber der Gedanke daran, den Umgang mit einer Waffe zu erlernen, um auf lebende Ziele, einen Feind, einen Verräter, zu schießen, kam mir absurd vor. Es war für mich undenkbar, für Volk und Vaterland in eine solche Situation gebracht zu werden, unvorstellbar, trainiert zu werden, mich mit einer todbringenden Waffe zu verteidigen.
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