Название: Das Licht ist hier viel heller
Автор: Mareike Fallwickl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783627022747
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Papa starrt mich entgeistert an.
»Ich dachte nur, das solltest du wissen«, sage ich, und für einen Augenblick bin ich überzeugt, dass er einfach gehen wird. Dass er sich verkriechen, noch mehr trinken und traurig aus dem Fenster seiner versifften Wohnung schauen wird.
Er schmeißt seine Bierflasche in den Schnee, lässt mich ohne ein Wort stehen, stapft zur Glastür, schiebt sie auf die Seite, stürmt hinein in die Gästemeute, in deren überraschtes Rufen, er schnappt Reto, der neben Mama steht und Torte isst, und schlägt ihm ins Gesicht. Das geht so schnell, dass keiner reagieren kann, am allerwenigsten der Schweizer. Sein Teller zerbricht, als Reto zu Boden geht. Mama fängt an zu schreien.
Das war einfacher als gedacht, er hat nicht einmal nachgeschaut, ob es wahr ist, was ich da behaupte. Wahrscheinlich wollte er ihn sowieso schon längst schlagen. Die ganze Zeit war Papa das aufgedrehte Gas, und ich war der Funken.
Reto springt auf und stürzt sich auf Papa, der rückwärts in den Kuchen fällt wie in einem Slapstick-Movie. Es sieht lustig aus, aber ich kann nicht lachen. Ein bisschen tun sie mir leid, alle da drin, wie sie von ihrer Gefallsucht dirigiert werden und von ihrem Hierarchiedenken, das mit Geld zu tun hat und mit Titeln und Besitz. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen ich genügend inneren Abstand habe, um klar zu sehen, um das gesamte Gefüge zu erkennen, in das wir verstrickt sind. Ich wollte nicht, dass Papa und Reto sich prügeln, dass Mama einen Schreikrampf bekommt. Aber ich wollte, dass alle, wirklich alle, sehen können, was wir sehen. Was für Arschlöcher sie sind.
»Die Party«, sagt Spin, »war gar nicht so langweilig wie gedacht.«
Er hat das Haus durch die Vordertür verlassen und steht auf der anderen Seite des Zauns. Ich klettere darüber. Er reicht mir meine Jacke und meinen Helm. Wir sehen uns kurz an, wir lächeln nicht. Er startet das Moped, ich steige hinter ihm auf, halte mich an ihm fest und schiebe die Hände in seine Jacke.
Er gibt Gas, die Luft ist kalt.
9
Wenger sitzt nackt auf dem Bett und googelt sich selbst. Das Kokain hat sich verwaschen, fadet aus, er ist im Zwischenstadium. Noch beflügelt, berauscht, aber nicht mehr aufgestachelt und heiß wie vor wenigen Stunden, nicht mehr überzeugt von sich und mutig, nicht mehr high. Das Runterkommen hat eingesetzt, das Ächzen der Knochen, das Kratzen im Hirn, die nicht länger unterdrückte Müdigkeit. Neben ihm auf dem Nachtkästchen liegen die Downer, er wird zwei oder drei schlucken, damit er schlafen kann, später. Als er jung war, hat er gekifft, um den Übergang vom Koks sanft zu machen, aber jetzt ist er alt, jetzt weiß er, dass das Kiffen ihn nur hinhält, dass er achtundvierzig Stunden später die Nachwirkungen trotzdem fühlt, heftiger sogar. Sein Körper verzeiht ihm nichts mehr. Tagelang ist er dann träge und unwillig, mit Schmerzen an Stellen, an denen einst Leichtigkeit war.
Wenn Wenger seinen Namen eingibt und auf News klickt, sieht er sich selbst, wie er in die Geburtstagstorte fällt. Er sieht sich Reto schlagen, ein ungeschickter, unpräziser Schlag war das, dessen Wirkung nur von der Wucht ausging und vom Überraschungseffekt. Es gibt Bilder von Reto, der am Boden liegt und sich die Nase hält, aus der Blut läuft, es gibt Bilder von Wenger, der die Augen aufgerissen hat und den Mund. Sein Blick ist grimmig, ein bisschen irr, die Zähne sieht man so deutlich, als hätte er jemanden beißen wollen, und wenn Wenger die Fotos vergrößert, glaubt er sogar Speichel zu erkennen, der in Tropfen um sein Kinn fliegt. Er weiß nicht mehr, was er geschrien hat. In dem Video auf YouTube kann er es nicht verstehen, zu laut ist das Gekreisch der Leute.
Patrizia ist die Mimik entglitten, entsetzt ist sie, schief und verzogen, nicht grad attraktiv. Das hat sie nicht geplant, mit Sicherheit nicht, sie hat auf jedem Foto schön aussehen wollen an diesem Abend, und wahrscheinlich ist sie aus diesem Grund noch wütender auf ihn.
Er hat nicht an die Kameras gedacht. In keinem Moment war ihm bewusst, dass er gefilmt werden würde, dass Dutzende Handys bereits auf Patrizia und Reto gerichtet waren, um festzuhalten, wie die beiden den Kuchen anschnitten, so einträchtig, er sieht das jetzt, als wäre es eine Hochzeitstorte. Er hat gar nicht richtig hingeschaut in diesem Augenblick, der ihm im Nachhinein wie losgelöst erscheint, er hat Zoey stehen gelassen und ist hineingestürmt ins Haus, weißen Zorn im Kopf und die Hand schon zur Faust geballt.
Er kann nicht aufhören zu klicken. Die Schlagzeilen wiederholen sich, eine Plattform kopiert von der anderen, zwei oder drei Zitate von Gästen hat er gelesen, auch immer dieselben.
»Er hat Reto den ganzen Abend belauert«, soll Jacqueline Hermann gesagt haben, eine botoxgespritzte Kackbratze, die nichts kann, außer mit einem Bankdirektor verheiratet zu sein. Belauert, von wegen, er hat sich doch ferngehalten von dem muskelbepackten Hohlhirn, hat nicht ertragen, wie der sich in der Villa bewegt hat, als gehöre sie ihm, und hat deswegen den Blick abgewendet.
»Ein Pulverfass, dieser Mann, gemeingefährlich«, hat sich ein gewisser Emanuel Gissbert empört, ein Schönheitschirurg, auf dessen Tisch Jacqueline vermutlich regelmäßig liegt. Die haben’s nötig, die zwei.
Wenger schnaubt. Er und ein Pulverfass? Lächerlich. Es zündet doch eh nichts mehr bei ihm.
Eklat auf Trixies Glamourparty – Ex schlägt Nebenbuhler steht auf der einen Seite, Betrunken & brutal – Schriftsteller lässt Fäuste statt Worte sprechen auf einer anderen. Wer schreibt so einen Scheiß? Und überhaupt: mitten in der Nacht? Es ist fünf Uhr morgens, wieso ist das bereits online? Sitzen da nimmermüde zwanzigjährige Praktikanten abrufbereit vor ihren Tablets, mit einem Starbucks-Grande-Karamell-zehn-Euro-Latte in der Hand, alle Kanäle offen, Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat, YouTube, und wenn was passiert, macht’s bim, bam! und sie posten? Wenger kann sich das nicht erklären, er weiß nicht, wie sie funktioniert, diese virtuelle Medienwelt. Das ist Patrizias Metier. Sie ist dort zuhause, zwischen Likes und Streams und Grids. Wenger versteht nicht einmal die Ausdrücke, mit denen sie um sich wirft, keiner davon ist deutsch, sie redet von Scrollen und Leadgenerierung, von Metatags, Contentboxen und Benchmarks. Reines Englisch scheint das allerdings auch nicht mehr zu sein, eher eine Zwischensprache, ein Zwitterwesen mit englischen Gliedmaßen, die immer mehr werden, sich dem deutschen Körper anpassen, sich der deutschen Grammatik unterwerfen, ein Wesen mit einem alten indogermanischen Herzen, das in einem neuen Takt schlägt. Einem Beat.
Früher hat Wenger noch eine Pressemeldung abgeben können, eine Erklärung, bevor die Zeitungen gedruckt wurden. Und ja, doch, das war öfter mal nötig, immer wieder war das nötig, wenn er mit Schnee an der Nase erwischt wurde, mit den falschen Leuten im Hinterzimmer eines Clubs oder damals mit der Kleinen, die ihm zum Ruhm verholfen hat mit ihrem Geburtsdatum. Sie, die der Auslöser für so vieles war und die er seit Jahrzehnten zu vergessen versucht. Die Pressemeldung war dann ein Mantel der Lüge, den er der Wahrheit umlegen konnte, reine Schönfärberei, jeder wusste das, aber es klang halt besser. Mit Worten konnte er ja umgehen, mit ihrer Hilfe konnte er sich rauswinden aus jeder Schlinge. Und auch die Schlingen selbst waren aus Worten geknüpft, aus Berichten und Anschuldigungen, nicht, wie heute, aus belastenden Bildern, für die jeder nur sein Handy zücken muss und gegen die man sich kaum wehren kann anschließend.
Und stets haben sie ihm verziehen, die Leute, haben fast schon erwartet von ihm, dem Schelm der Literaturszene, dass er was Durchtriebenes tat, er hatte einen Ruf, dem er gerecht werden musste. »Der Wenger wieder«, hieß es dann, sie schüttelten die Köpfe, aber mit einem Grinsen, was der sich traut, so müsste man leben, das sagten sie nicht, das dachten sie nur. Und dann gingen sie in die Buchhandlung und kauften seinen СКАЧАТЬ