Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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Wer hat nicht schon einmal in seinem Leben den Lauf und das Verhalten einer Ameise eifrig beobachtet; in das einzige Atemloch einer weißen Schnecke Strohhalme gesteckt; den launischen Flug einer schlanken Libelle verfolgt oder die tausend Äderchen bewundert, die sich, bunt wie die Rosette einer gotischen Kathedrale, auf den rötlichen Blättern einer jungen Eiche abzeichnen? Wer hat nicht eine geraume Weile entzückt die Wirkung der Sonne und des Regens auf ein braunes Ziegeldach betrachtet oder die Tautropfen, die Blütenblätter, ihre mannigfaltig gezackten Kelche beschaut? Wer war nicht schon in diese sinnlichen, trägen und hingegebenen Träume versunken, die kein Ziel haben und doch zu einem Gedanken führen? Wer schließlich hat nicht schon einmal das Leben des Kindes, das faule Leben, das Leben des Wilden ohne dessen tägliche Verrichtung geführt? So lebte Raphael mehrere Tage lang, ohne Sorgen, ohne Wünsche. Er fühlte sich merklich besser, fühlte ein außergewöhnliches Behagen, das seine Unruhe besänftigte, seine Qualen linderte. Er stieg auf die Felsen und setzte sich auf eine Bergspitze, von der aus sein Auge bis in die weite Ferne schaute. Da verbrachte er ganze Tage wie eine Pflanze in der Sonne, wie ein Hase auf seinem Lager. Oder er machte sich mit den Erscheinungen der Vegetation, mit den Veränderungen des Himmels vertraut, er beobachtete aufmerksam die fortschreitende Entwicklung auf der Erde, im Wasser oder in der Luft. Er versuchte sich mit dem inneren Leben dieser Natur zu verbinden und mit ihrem duldenden Gehorsam so völlig zu verschmelzen, daß er dem unumschränkten, zwingenden und erhaltenden Gesetz verfiel, das über den Geschöpfen, die dem Instinkt folgen, waltet. Er wollte nicht länger die Last seiner selbst tragen. Gleich den Verbrechern vergangener Zeiten, die, von der Justiz verfolgt, gerettet waren, wenn sie sich in den Schatten eines Altars geflüchtet hatten, versuchte er sich in das Heiligtum des Lebens einzuschleichen. Es gelang ihm, ein Teil dieses weiten und mächtigen Reifeprozesses der Natur zu werden: er hatte alle Unbilden der Witterung erfahren, in allen Höhlen der Felsen gehaust, die Eigenarten und Gewohnheiten aller Pflanzen kennengelernt, die Herkunft und den Verlauf der Quellen erforscht und mit den Tieren Bekanntschaft geschlossen; kurz, er war mit dieser belebten Erde so völlig eins geworden, daß er gewissermaßen ihre Seele erfaßt hatte und in ihre Geheimnisse eingedrungen war. Für ihn waren die unendlichen Formen in allen Reichen der Natur die Entwicklungen ein und derselben Substanz, die Kombinationen ein und derselben Bewegung, der weitreichende Atem eines ungeheuren Wesens, das wirkte, dachte, voranschritt, wuchs und mit dem er wachsen, voranschreiten, denken und wirken wollte. Er hatte sein Leben in romantischer Art mit dem Leben dieses Felsens vereint, war mit ihm verwachsen. Dank diesem geheimnisvollen Aufflackern, dieser künstlichen Genesung, die den wohltätigen Zuständen des Deliriums zu vergleichen war, mit denen die Natur dem Schmerz Pausen der Erleichterung bewilligt, kostete Valentin in den ersten Tagen seines Aufenthalts in dieser lachenden Landschaft die Wonnen einer zweiten Kindheit. Er lebte so in den Tag hinein, ergründete Nichtigkeiten, unternahm tausend Dinge, ohne eins zu vollenden, vergaß heute, was er gestern vorgehabt hatte, und war sorglos, war glücklich und glaubte sich gerettet. Eines Tages war er zufällig bis Mittag im Bett geblieben; er lag in eine der Träumereien versunken, die aus Schlaf und Wachen gemischt sind, die der Wirklichkeit den Anschein der Phantasie, den Trugbildern die Gestalt der Wirklichkeit verleihen, als er plötzlich, ohne daß er gleich wußte, ob er nicht weiterträumte, zum erstenmal den Bericht über sein Befinden mit anhörte, den seine Wirtin Jonathas mitteilte, der wie jeden Tag heraufgekommen war, um sich danach zu erkundigen. Die Auvergnatin glaubte wahrscheinlich, Valentin schlafe noch, und hielt es nicht für nötig, ihre schallende Stimme zu dämpfen.
»Es geht nicht besser und nicht schlechter«, sagte sie. »Er hat heute nacht wieder gehustet, als ob er seine Seele von sich geben wollte. Er hustet, er spuckt, der gute Monsieur, daß es ein Jammer ist. Wir fragen uns, ich und mein Mann, wo er die Kraft hernimmt, so zu husten. Es zerreißt das Herz. Was für eine verdammte Krankheit hat er! Gar nicht, ganz und gar nicht gut geht es! Ich hab immer Angst, er liegt eines Morgens starr und stumm in seinem Bett. Er ist wahrhaftig blaß wie ein wächserner Jesus! Oh je, ich sehe es, wenn er aufsteht, sein armer Leib ist klapperdürr. Und er riecht schon nicht gut, nee, wahrhaftig nicht! Das ist ihm piepe, er läuft herum und verbraucht seine Kräfte, als ob er noch Gesundheit zu verkaufen hätte. Dabei behält er trotzdem den Kopf oben und jammert niemals! Aber wahrhaftig, unterm Boden wär ihm wohler, er leidet ja zum Steinerbarmen! Ich möcht’s nicht haben, unser Interesse wär’s nicht. Aber gäb er uns auch nicht, was er uns gibt, ich hätt ihn doch lieb: ’s ist nicht aus Berechnung, wahrhaftig nicht! Ach, großer Gott, so ’ne verfluchten Krankheiten kriegen doch nur die Pariser! Wo nehmen sie die nur her? Armer junger Mann! Es kann kein gutes Ende nehmen. Das Fieber, wissen Sie, das höhlt ihn aus, das schmeißt ihn um! Er hat keine Ahnung; er denkt gar nicht dran, Monsieur. Er merkt reinweg nichts. Na, nu flennen Sie mal nicht, Monsieur Jonathas! Das ist doch sicher, wenn er nichts mehr auszustehen hat, ist er glücklich. Spendieren Sie doch eine Andacht von neun Tagen für ihn! Ich habe schöne Heilungen dadurch gesehn, und ich tät selber ’ne Kerze zahlen, um so ’nen sanften Monsieur, so ’n friedliches Schaf zu retten.«
Raphaels Stimme war zu schwach geworden, um gehört zu werden: er mußte also dieses fürchterliche Geschwätz über sich ergehen lassen. Dann aber riß ihn die Ungeduld aus dem Bett. Er stand plötzlich an der Schwelle und rief Jonathas zu: »Alter Schurke, willst du unbedingt mein Henker sein?« Die Bäuerin glaubte ein Gespenst zu sehen und entfloh.
»Ich verbiete dir«, fuhr Raphael fort, »über meine Gesundheit irgend besorgt zu sein.«
»Ja, Monsieur le Marquis«, erwiderte der alte Diener und wischte sich die Tränen ab.
»Und du tätest sogar gut daran, von jetzt ab nicht ohne meinen ausdrücklichen Befehl hierherzukommen.«
Jonathas wollte gehorchen; aber bevor er ging, warf er dem Marquis einen treuen, mitleidvollen Blick zu. Raphael las sein Todesurteil darin. СКАЧАТЬ