Название: Das Zeitalter der Extreme
Автор: Eric Hobsbawm
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806239669
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Rules as to Bombardement by Aircraft, 1921 (Townshend, 1986, S. 161)
Hier, wie in Belgrad, sehe ich in den Straßen viele junge Frauen mit leicht, ja auch völlig ergrautem Haar. Die Gesichter sind verhärmt, aber noch jung, und die Körperformen zeigen noch deutlicher ihre Jugend. Ich glaube zu sehen, wie die Hand des Krieges über die Köpfe dieser schwachen Geschöpfe hinweggegangen ist und sie mit vorzeitigem Grau bestreut hat, durch das noch die Jugend scheint.
Dieses Bild wird man nicht für die Zukunft bewahren können; diese Köpfe werden bald noch stärker ergrauen und dann völlig von der wogenden Oberfläche der Passanten verschwinden. Das ist schade. Nichts würde künftigen Generationen besser und deutlicher etwas über unsere Zeit sagen als die jungen, grauen Köpfe, denen völlig oder teilweise die Sorglosigkeit und Freude der Jugend gestohlen wurde.
Möge wenigstens in diesen Zeilen ein Gedenken an sie bleiben.
Sarajevo, 14. Juni 1946
Ivo Andrić, Wegzeichen (München 1982, S. 108–109)
1
»Jetzt verlöschen die Lichter in ganz Europa«, sagte Edward Grey, Außenminister von Großbritannien, während er an jenem Abend im Jahr 1914, als Großbritannien und Deutschland in den Krieg eintraten, auf die Lichter von Whitehall blickte. »Wir werden sie nie wieder in unserem Leben brennen sehen.« In Wien bereitete sich der große Satiriker Karl Kraus darauf vor, diesen Krieg in einem ungewöhnlichen Reportagedrama von 792 Seiten zu dokumentieren und zu brandmarken, dem er den Titel Die letzten Tage der Menschheit gab. Beide sahen mit diesem Weltkrieg das Ende der Welt gekommen, und damit standen sie nicht allein. Es war nicht das Ende der Menschheit, obwohl es im Verlauf der einunddreißig Jahre des Weltkonflikts zwischen dem 28. Juli 1914, als Österreich Serbien den Krieg erklärte, und der bedingungslosen Kapitulation Japans am 14. August 1945 – vier Tage nach der Explosion der ersten Atombombe – Augenblicke gegeben hat, in denen das Ende eines beträchtlichen Anteils der Menschheit nicht weit entfernt schien. Es hat sicher Zeiten gegeben, zu denen der Gott oder die Götter, die fromme Menschen als Schöpfer der Welt und von allem, was in ihr ist, verehren, bedauert haben dürften, ebendas getan zu haben.
Die Menschheit hat überlebt. Doch das großartige Bauwerk der Zivilisation des 19. Jahrhunderts brach in den Flammen des Weltkriegs zusammen, als seine Säulen einstürzten. Das Kurze 20. Jahrhundert wäre ohne diese Geschichte nicht zu verstehen. Es war von Krieg gekennzeichnet. Es hat in den Vorstellungen eines Weltkriegs gelebt und gedacht, selbst als die Kanonen schwiegen und keine Bomben mehr explodierten. Seine Geschichte, genauer gesagt die Geschichte des Zeitalters seit dem Beginn seines Zusammenbruchs und der Katastrophe, muß mit der Geschichte des einunddreißigjährigen Weltkriegs beginnen.
Für viele, die vor 1914 aufgewachsen waren – wozu auch die Generation der Eltern des Autors und deren mitteleuropäische Familienmitglieder gehörten –, war der Kontrast derart dramatisch, daß sie sich weigerten, überhaupt irgendeine Kontinuität zur Vergangenheit zu sehen. »Im Frieden«, das bedeutete: »vor 1914«. Danach kam etwas, das diese Bezeichnung nicht länger verdiente. Und das war verständlich. Denn 1914 hatte es seit einem Jahrhundert keinen großen Krieg gegeben, das heißt einen Krieg, in den alle oder zumindest die Mehrheit der wichtigsten Staaten verwickelt gewesen wären. Die entscheidenden Figuren im internationalen Spiel waren damals die sechs europäischen »Großmächte« (Großbritannien, Frankreich, Rußland, Österreich-Ungarn, Preußen – nach 1871 vergrößert als Deutschland – und, nachdem es vereint war, Italien) sowie die USA und Japan. Es hatte nur einen einzigen kurzen Krieg gegeben, bei dem mehr als zwei Großmächte in die Schlacht gezogen waren: den Krimkrieg (1854–56) zwischen Rußland auf der einen und Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite. Hinzu kommt, daß die meisten Kriege, in die überhaupt Großmächte verwickelt waren, vergleichsweise kurz gewesen waren. Der bei weitem längste war denn auch kein internationaler Konflikt, sondern ein Bürgerkrieg innerhalb der USA (1861 -65). Die Dauer eines Krieges wurde in Monaten oder sogar nur Wochen gemessen (wie der Krieg 1866 zwischen Preußen und Österreich). Zwischen 1871 und 1914 hatte es in Europa überhaupt keine Kriege gegeben, bei denen die Armeen der Großmächte eine feindliche Grenze überschritten hätten, obgleich Japan im Fernen Osten Rußland bekämpfte und besiegte (1904–05) und damit die Russische Revolution beschleunigte.
Weltkriege hatte es überhaupt nicht gegeben. Im 18. Jahrhundert hatten Frankreich und Großbritannien zwar eine Reihe von Kriegen bestritten, deren Schlachtfelder in Indien, Nordamerika und anderswo jenseits der Weltozeane lagen. Doch zwischen 1815 und 1914 hatte keine Großmacht eine andere außerhalb ihres unmittelbaren Machtbereichs bekämpft, obwohl natürlich Feldzüge von Imperien oder Möchtegernimperien gegen schwächere Feinde in Übersee an der Tagesordnung waren. Dies waren meist spektakulär einseitige Kämpfe, wie die Kriege der USA gegen Mexiko (1846–48) und Spanien (1898) oder die verschiedenen Feldzüge der Briten und Franzosen, um ihre Kolonialreiche zu vergrößern. Allerdings, sogar der Wurm krümmte sich das eine oder andere Mal, beispielsweise als sich Frankreich in den 1860er Jahren aus Mexiko zurückziehen mußte oder die Italiener 1896 zum Abzug aus Äthiopien genötigt waren. Dennoch, selbst die stärksten Gegner der modernen Staaten, die ihre Arsenale mit immer mehr überwältigend überlegener Todestechnologie füllten, konnten bestenfalls darauf hoffen, den unvermeidlichen Rückzug hinauszuschieben. Derart exotische Konflikte waren der Stoff, aus dem Abenteuerliteratur entstand oder die Berichte einer neuen Erfindung des mittleren 19. Jahrhunderts – des Kriegskorrespondenten –, aber sie hatten keine unmittelbare Relevanz für die Mehrzahl der Bewohner jener Staaten, die diese imperialen Kriege führten und gewannen.
All dies änderte sich 1914 schlagartig. Der Erste Weltkrieg verwickelte alle Großmächte und alle europäischen Staaten, außer Spanien, den Niederlanden, den drei skandinavischen Staaten und der Schweiz. Darüber hinaus wurden – und das häufig zum erstenmal – Truppen aus der Welt jenseits der Ozeane in den Kampf und zur Arbeit außerhalb ihrer eigenen Regionen geschickt. Kanadier kämpften in Frankreich, Australier und Neuseeländer schmiedeten ihr Nationalbewußtsein auf der ägäischen Halbinsel »Gallipoli«, die zu ihrem Nationalmythos werden sollte. Aber wichtiger noch war, daß die USA George Washingtons Warnung vor »europäischen Verwicklungen« in den Wind schlugen und ihre Männer ebendorthin zum Kampf schickten – und damit den Lauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmten. Inder wurden nach Europa und in den Nahen Osten geschickt, chinesische Arbeitsbataillone fanden sich im Westen wieder, Afrikaner kämpften in der französischen Armee. Die militärischen Aktionen außerhalb Europas waren, vom Nahen Osten einmal abgesehen, nicht von großer Bedeutung, der Seekrieg hingegen war wiederum global: sein erster Kampf wurde 1914 vor den Falklandinseln und seine entscheidenden Schlachten von deutschen Unterseebooten und alliierten Konvois auf und unter der Nordsee und inmitten des Atlantiks geführt.
Daß der Zweite Weltkrieg im buchstäblichen Sinne weltweit war, bedarf kaum eines Beweises. Tatsächlich waren alle unabhängigen Staaten der Welt freiwillig oder unfreiwillig involviert, obschon die Republiken Lateinamerikas eigentlich nur nominell beteiligt waren. Und die Kolonien der imperialen Mächte hatten dabei keine Wahl. Abgesehen von der zukünftigen Republik Irland, Schweden, Schweiz, Portugal, Türkei und Spanien in Europa, und möglicherweise auch Afghanistan außerhalb Europas, führte die gesamte Welt Krieg oder war besetzt, oder beides. Und was die Schlachtfelder anging, so wurden derart exotische Namen wie der der Melanesischen Inseln oder von Siedlungen in der nordafrikanischen Wüste oder aus Birma und den Philippinen Zeitungslesern und Radiohörern – dies war im wesentlichen der Krieg der Radionachrichten – überall ebenso vertraut wie die Namen von arktischen und kaukasischen Schlachten, von der Normandie, Stalingrad oder Kursk. Der Zweite Weltkrieg СКАЧАТЬ