Название: Das Zeitalter der Extreme
Автор: Eric Hobsbawm
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806239669
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Eine andere Transformation war von weitaus größerer Bedeutung. Zwischen 1914 und den frühen neunziger Jahren war die Welt in viel höherem Maße zu einer einzigen Funktionseinheit geworden, als sie es 1914 gewesen war und gewesen sein konnte. In der Tat, aus vielen und vor allem wirtschaftlichen Gründen ist »die Welt« heute die primäre Funktionseinheit, wobei ältere Einheiten, wie die »Nationalökonomien«, die sich durch die Politik von territorialen Staaten definierten, auf untergeordnete Komplexe transnationaler Aktivitäten reduziert wurden. Das Stadium, das der Aufbau des »globalen Dorfes« – ein Begriff, der aus den sechziger Jahren stammt (McLuhan, 1962) – in den neunziger Jahren erreicht hatte, wird einem Beobachter Mitte des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich nicht sehr weit fortgeschritten erscheinen; und doch hatten sich nicht nur bestimmte wirtschaftliche und technische Aktivitäten und Wissenschaftsvorgänge grundlegend gewandelt, sondern auch wichtige Aspekte des privaten Lebens – vor allem dank der unvorstellbaren Geschwindigkeit des Fortschritts im Kommunikations- und Transportwesen. Am schlagendsten wird dies vielleicht durch die Spannungen charakterisiert, die am Ende des 20. Jahrhunderts zwischen dem sich beschleunigenden Prozeß der Globalisierung einerseits und der Anpassungsunfähigkeit von Institutionen und dem kollektiven Verhalten der Menschen andererseits entstanden waren: denn seltsamerweise hatte das Individuum sehr viel weniger Schwierigkeiten, sich an die Welt des Satellitenfernsehens, von E-Mail, an die Ferien auf den Seychellen oder an den transozeanischen Pendelverkehr anzupassen.
Die dritte und in mancher Hinsicht verstörendste Transformation war die Auflösung der alten Sozial- und Beziehungsstrukturen und, Hand in Hand damit, das Zerbersten der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart also. Besonders deutlich trat dies in den fortgeschrittensten Staaten des westlichen Kapitalismus zutage, wo staatliche wie private Ideologien zunehmend von den Werten eines absolut asozialen Individualismus dominiert wurden – obgleich häufig auch jene, die ihn selbst verkörperten, die sozialen Folgen beklagten. Aber diese Tendenz trat auch anderswo auf und wurde nicht nur von der Erosion der traditionellen Gesellschaften und Religionen gefordert, sondern auch durch die Zerstörung oder Selbstzerstörung der Gesellschaften des »real existierenden Sozialismus«.
Eine solche Gesellschaft, die nur noch aus einer unzusammenhängenden Ansammlung von egozentrischen, der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse nachjagenden (sei es zu Profitzwecken oder zum Vergnügen) Individuen besteht, war der kapitalistischen Wirtschaftstheorie immer eingewoben. Und seit dem Zeitalter der Revolution haben Beobachter aller ideologischen Couleur immer diese schleichende Entwicklung verfolgt und die Auflösung der alten sozialen Bindungen folgerichtig vorhergesehen. Der eloquente Tribut, den das Kommunistische Manifest der revolutionären Rolle des Kapitalismus in der Praxis zollte, ist bekannt. (»Das Bürgertum … hat mitleidlos die feudalen Bindeglieder zerrissen, die den Menschen mit seinen ›natürlichen Vorgesetztem verbanden, und zwischen Mensch und Mensch keinen anderen Nexus belassen als nackten Eigennutz.‹) Doch in der Praxis der neuen und revolutionären kapitalistischen Gesellschaft sah es etwas anders aus.
Denn in der Praxis operierte diese neue Gesellschaft nicht, indem sie ihr gesamtes Erbe von der alten Gesellschaft zerstörte, sondern indem sie dieses Erbe selektiv für ihre eigenen Zwecke nutzte. Die Bereitschaft der bürgerlichen Gesellschaft, den »radikalen Individualismus in der Wirtschaft« einzuführen und »im Verlauf dieses Prozesses alle traditionellen gesellschaftlichen Beziehungen aufzulösen« (also dort, wo sie ihr im Weg stehen), ist kein »soziologisches Puzzle«, ebensowenig wie die Angst vor einem kulturellen (und auf Verhalten wie Moral bezogenen) »radikal-experimentellen Individualismus« (Daniel Bell, 1976, S. 18). Denn die wirksamste Art und Weise, eine auf Privatunternehmen basierende Industriewirtschaft aufzubauen, ist, sie mit Motivationen zu verknüpfen, die nichts mit der Logik des freien Marktes zu tun haben – also beispielsweise mit der protestantischen Ethik; mit dem Verzicht auf unmittelbar eintretenden Erfolg; mit dem Ethos der harten Arbeit; mit familiärem Pflichtgefühl und Vertrauen, aber gewiß nicht mit der antinomistischen Rebellion von Individuen.
Doch Marx und die anderen Propheten der Zerstörung aller alten Werte und sozialen Beziehungen hatten recht. Der Kapitalismus war die Kraft der permanenten, ununterbrochenen Revolution. Logischerweise mußte er auch jene Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit zerstören, die für seine eigene Entwicklung notwendig und vielleicht sogar entscheidend gewesen waren. Früher oder später mußte er mindestens einen der Äste absägen, auf denen er selbst saß. Ebendas geschah seit Mitte des Jahrhunderts. Unter dem Einfluß der so überaus starken wirtschaftlichen Explosion des Goldenen Zeitalters und später, während der von ihr bewirkten sozialen und kulturellen Veränderungen – der tiefgreifendsten gesellschaftlichen Revolution seit der Steinzeit –, begann der Ast zu knacken und zu brechen. Am Ende dieses Jahrhunderts war es zum erstenmal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit (auch die Vergangenheit der Gegenwart) keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten, und nicht mehr dem Meer, über das wir segelten. Eine Welt, in der wir nicht mehr wissen können, wohin uns unsere Reise führt, ja nicht einmal, wohin sie uns führen sollte.
Dies ist die Situation, mit der ein Teil der Menschheit bereits Ende dieses Jahrhunderts zurechtkommen muß und auf die sich noch viel mehr Menschen im neuen Jahrtausend einstellen müssen. Doch dann wird vielleicht schon klarer als heute geworden sein, wohin die Menschheit geht. Wir können nur zurückblicken und feststellen, was auf dem Wege lag, der uns bis hierher geführt hat. Das habe ich in diesem Buch versucht. Wir wissen zwar nicht, wovon unsere Zukunft geprägt sein wird; doch ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, auch über künftige Probleme nachzudenken, jedenfalls sofern sie aus den Ruinen jener Periode auftauchen werden, die gerade zu Ende gegangen ist. Hoffentlich wird es eine bessere, gerechtere und lebenswertere Welt sein. Das alte Jahrhundert hat kein gutes Ende genommen.
* Ich habe versucht, den Aufstieg dieser Zivilisation in einer dreibändigen Geschichte des »Langen 19. Jahrhunderts« (1780 bis 1914) darzustellen und die Gründe für ihren Zusammenbruch zu analysieren. Hier werde ich immer wieder einmal, wo es sinnvoll erscheint, auf diese Bände Bezug nehmen: Europäische Revolutionen 1789–1848; Die Blütezeit des Kapitals 1848–1875; und Das imperiale Zeitalter 1875–1914.
Erstes Kapitel
Das Zeitalter des totalen Krieges
Spaliere grau mürrischer Gesichter, getarnt mit Angst,
Sie verlassen ihre Gräben, klettern über den Wall,
Zeit verrinnt leer und eilig an ihrem Handgelenk,
Und Hoffnung, mit verschlagenen Augen und klammerndem Griff,
Irrt im Schlamm umher. O Jesus, mach ein Ende!
Siegfried Sassoon (1947, S. 71)
Es wäre wohl eine gute Idee, angesichts der Anklagen СКАЧАТЬ