Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
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Название: Arkadien

Автор: Emmanuelle Bayamack-Tam

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783906910796

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СКАЧАТЬ es mir so offenkundig an Charisma fehlt, ist es wirklich besser, wenn andere an meiner Stelle das Begonnene zu Ende bringen. Mir fällt auf, dass Daniel in Bezug auf seine Attraktivität die gleichen Zweifel hegt wie ich. Tatsächlich ähneln wir uns sehr und werden häufig für Geschwister gehalten: Groß, pferdeähnlich, knochig und mit sehr dunklem Teint, haben wir beide etwas Androgynes an uns, das für Verwirrung sorgt. Und so haben wir beschlossen, gemeinsam auf die Pirsch zu gehen, um unsere Chancen zu erhöhen. Mit meiner Figur einer Kampfringerin und den ersten Anzeichen eines Damenbarts sehe ich aus wie zwanzig, dabei bin ich noch keine fünfzehn – in diesem Alter soll ja meine Entjungferung im großen Stil begangen werden, es sei denn, Arkady verweigert die führende Rolle, die ich ihm dabei zudenke, in diesem Fall würde ich den Anstich auf später verschieben und einfach nur meinen Geburtstag feiern. Daniel hingegen ist sechzehn, ohne die geringste Spur jugendlicher Frische aufzuweisen. Wegen seines schleppenden Gangs, seiner stets gerunzelten Stirn, seines aschgrauen Teints und seines trüben Blicks kann man ihn sogar leicht für sechs Jahre älter halten. Trotzdem wird er mich zum Sonntagsmarkt begleiten. Während Marqui Blumen und Ratschläge zur Selbstentfaltung an den Mann bringt, werden wir Kunden ködern – sofern ihnen ein gewisser Wohlstand anzumerken ist. Wir haben ebenfalls etwas zu verkaufen: unsere Jugend, klar, aber auch unser kleines freiheitliches Evangelium. Die Zeugen Jehovas, die sich gleichfalls zwischen den Ständen tummeln, müssen sich warm anziehen, mit ihren altmodischen Broschüren und ihrer Verkündigung des Königreichs. Daniel und ich leben doch im Königreich, es existiert, es ist bereits da, nur wenige Kilometer von diesem mediterranen Markt entfernt; wir brauchen es nicht zu verkündigen, wir brauchen nur unsere willigen Opfer dorthin zu führen, die vielen müßigen Privatiers, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld, mit ihrer Zeit, mit ihrem Leben anstellen sollen. Selig, die reich sind, denn ihnen wird alles gehören, wenn sie bereit sind, unserer frohen Botschaft zu lauschen, unseren glühenden Worten, dieser feurigen Rede, die besagt, dass wir sie gern leidenschaftlich lieben wollen, wenn sie uns nur den Nervus Rerum stärken, die goldene Munition für den Krieg liefern, den wir gegen die Ungerechtigkeit und den Aberwitz dieser Welt führen.

      Und es klappt: Vom ersten Sonntag an sammeln wir neue Anhänger. Offenbar bilden Daniel und ich bei aller individueller Reizlosigkeit ein unwiderstehliches Paar. Und natürlich hat Arkady uns überzeugende Elemente für die Ansprache mitgegeben: das Ende der Welt, die allgemeine Vergänglichkeit, die sieben Spiegel der Seele, die überwältigende Vision der Liebe. Wenn mir die Worte fehlen, springt Daniel mit ungewohnter Verve ein. So kannte ich ihn bisher nicht und muss gestehen, dass er mich richtig umhaut. Woher nimmt er diesen spöttischen Witz und dieses lüsterne Augenfunkeln, während er sonst so müde und lustlos dreinblickt? An diesem Tag fahren wir ganz berauscht von unserem Erfolg im Kleintransporter meines Vaters zum Liberty House zurück: Eine gewisse Nelly Consulat, die sich als Urenkelin eines Astronomen vorstellt und vor allem selbst als Millionärin bezeichnet, hat großes Interesse an unserem Angebot bekundet. So blond wie Dadah brünett ist, jedoch viel fitter als Letztere, obwohl beide ungefähr gleich alt sind, halten wir diese Nelly alle für ein erstklassiges Neumitglied, sodass Arkady sie mit allen Ehren und einem üppigen Festmahl empfangen will.

      »Wir bereiten für sie unseren Tofu im Blätterteigmantel mit Trüffelcreme zu, und den Flan aus roter Beete mit Mascarponeschaum, einverstanden? Und unsere Ravioli mit Salbei-Butternut-Füllung: Sie wird begeistert sein!«

      Wie immer, wenn es ums Fressen geht, spitzt Victor die Ohren und gibt seinen Senf dazu: »Und dazu vielleicht noch Tempehscheiben mit Minze und Preiselbeeren? Und zum Nachtisch ein Sabayon aus Jasmin und Himbeeren!«

      Essen ist wie Blumen: ein ideales Gesprächsthema für Leute, die nichts in der Birne oder sich gegenseitig nichts zu sagen haben, was vermutlich Hand in Hand geht. Und wieder möchte ich Sie ermuntern, das selbst einmal auszuprobieren und das Thema aufzuwerfen, einfach so, ganz beiläufig. Sie werden staunen, wie sich die Gesichter aufhellen, die Zungen lösen und Quasi-Autisten das Wort ergreifen, um ihr Rezept für Schokoladenkuchen preiszugeben oder sich zu ihrer Vorliebe für Fisch oder Fleisch zu bekennen – eine Vorliebe, die bei uns keine Rolle spielt, da wir streng vegetarisch leben, deswegen auch Tempeh und Tofu. Dem Veganismus sind wir entronnen, aber nur knapp, nach turbulenten Debatten und einer nicht minder turbulenten Abstimmung. Hätte Fiorentina nicht aufgepasst wie ein Luchs, wäre die Umfrage sicher mit einem Sieg der Anti-Gluten-Fraktion ausgegangen, einer kleinen und sehr umtriebigen Lobby in unserer Gemeinschaft. Fiorentina hat sich jedoch mit ihrem ganzen Gewicht in die Waagschale geworfen, und so werde ich umgehend mein Versäumnis wettmachen und ihr die verdiente Anerkennung zollen.

7.

      Wäre ich nicht bereits in Arkady verliebt, wäre ich es bestimmt in Fiorentina, ihrem fortgeschrittenen Alter zum Trotz – wobei sich dieses nur schwer bestimmen lässt. Eines immerhin steht fest: Sie war vor allen anderen da. Anscheinend zählte sie sogar zu den Schülerinnen des Heiligsten Herzen, damals, als das Liberty House noch als Mädcheninternat fungierte. Arkady und Victor haben sie dort vorgefunden und gleich miteingekauft, samt Haus und Anwesen, das sie gespensthaft verwaltete. Aufgrund der ungeschriebenen Gesetze, die unser Leben im Liberty Haus regeln, hat sie einen Spitznamen verpasst bekommen, der genauso kryptisch ist wie meiner, nämlich Mrs. Danvers. Sie findet sich damit ab, wie mit allem anderen, den Launen von Arkady, den Schrullen von Victor, dem Aktionismus der Veganer, dem Leichtsinn der einen und den Schwächen der anderen. Dies fällt ihr umso leichter, als sie sowieso nur macht, was sie will. Es dauert eine Weile, bis man ihre Charakterstärke erkennt, da sie mit ihrer Schürze und ihrem sanften Blick wie eine Allegorie der Fügsamkeit wirkt – tatsächlich schätzt sie Fügsamkeit vor allem bei den anderen. Man braucht sie nur in ihrer Küche zu erleben, wo sie Hilfe allein unter der ausdrücklichen Bedingung annimmt, dass die Helfer sich ihr unterordnen und sich ausschließlich an ihre Anweisungen halten. Angesichts dieses eisernen Willens hatte die Anti-Gluten-Fraktion nicht die geringste Chance. Nein, ich irre mich und muss einsehen, dass die Liebe mich blind macht – was in ihrem Wesen begründet liegt. Ich irre mich, denn trotz ihrer autokratischen Neigungen und ihres ehernen Herzens erlitt Fiorentina an dem Tag, als sie uns ihr vitello tonnato nicht mehr servieren durfte, eine furchtbare Niederlage. Dazu muss man wissen, dass Fiorentina aus dem Piemont stammt: Für sie steht im Mittelpunkt einer Mahlzeit ganz selbstverständlich der Wildschweinbraten, mit einem Carpaccio als Vorspeise und Polenta als Beilage – oder allenfalls eine Pfanne voller gebratener Steinpilze. Für Desserts hat sie gar keinen Sinn und bereitet sie ohne Lust oder besonderen Eifer zu, dennoch sind ihre crostata di castagne, ihr semifreddo al torroncino oder ihre sbriciolata fragole e panna von erlesenster Qualität.

      In der ersten Zeit zählte das Liberty House nur eine Hand voll Mitglieder und suchte gleichzeitig nach seiner Ausrichtung, Funktionsweise und Hausordnung. Das heißt, dass Fiorentina sich nach Herzenslust am Herd austoben und alle Welt ihrer Fleischdiät unterwerfen konnte, abwechselnd mit arrosticini, Leber auf venezianische Art, Hackbraten und gezupften Ochsenbäckchen – und natürlich mit ihrem berühmten Wildschweinbraten. Ich war nicht dabei, was ich bedaure, denn Daniel schwärmt mir mit Tränen in den Augen von ihrem fritto misto aus Kalbsbries vor. Doch dann musste sich Fiorentina zack nach zwei, drei Jahren ungeteilter Herrschaft geschlagen geben. Nicht, dass man ihr Titel und Amt streitig gemacht hätte, nein, sie blieb unumstößlich die Herrscherin unserer Küche, dafür hatte Arkady aber die Gleichheit von Mensch und Tier zu einer der sieben Säulen seiner Weisheit erklärt und uns somit lebenslänglich den Genuss von Osso Bucco und Kaninchen in Senfsauce entzogen. So esse ich eben in der Kantine Fleisch, obwohl meine Eltern der Schulverwaltung zahlreiche antispeziesistische Briefe geschickt haben. Und ich hege den Verdacht, dass auch Fiorentina gegen unsere Statuten verstößt und ihr vitello tonnato still und heimlich in ihrer gigantischen mittelalterlichen Küche verzehrt.

      Dabei ist Arkady gerade dann besonders eloquent, wenn er über Tiere redet, ich könnte mich bei diesem Thema kaum auf eine einzige Predigt stützen, da es diesbezüglich Dutzende gibt – und ich mein eigenes, also Fiorentina, nicht aus den Augen verlieren will. Aber was kann ich noch über diese italienische Sphynx erzählen, die Daniel Metallica nennt, ein Spitzname, der sich durch Anschaulichkeit auszeichnet und СКАЧАТЬ