Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
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Название: Arkadien

Автор: Emmanuelle Bayamack-Tam

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783906910796

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СКАЧАТЬ – so hieß das Kind – ein Ende. Eros war der einzige, dem schließlich auffiel, dass Jean-Louis in eine unnatürliche Starre verfallen war und seine Eidechsenaugen sich getrübt hatten. Was tun? Er fasste sich ein Herz und schlich zum Schreibtisch von Madame Isnardon, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Frau Lehrerin, Jean-Louis ist tot!«

      Anders als Eros erwartet oder sogar befürchtet hatte, war Madame Isnardon in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil sie glaubte, er hätte einen Scherz versucht, und auf diesen eingehen wollte, vor allem aber, weil es für sie unvorstellbar war, dass ein siebenjähriges Kind urplötzlich starb, und dies an einem denkbar unpassenden Ort.

      »Ach was, er ist gewiss nicht tot! Du weißt doch, dass Jean-Louis immer so still und so brav ist. Im Gegensatz zu einigen anderen!« Bei dieser Gelegenheit warf sie dem Grüppchen unverbesserlicher Schwätzer einen vernichtenden Blick zu – es kam ja nicht so oft vor, dass man den armen Jean-Louis als Vorbild hinstellen konnte. Doch just in diesem Augenblick war der Unglückliche endlich vom Stuhl gefallen und hatte dabei verschiedene hochgefährliche Gegenstände verstreut: eine Gartenschere, Schraubenmuttern, eine Rauchgranate und mehrere Fläschchen Rum. Dieser unerwartete Tod brachte also ans Licht, dass Jean-Louis sehr wohl ein Innenleben gehabt und nach Monaten des Misserfolgs und der Demütigung aus lauter Groll sogar seine persönliche Version des Schulmassakers von Littleton geplant hatte. Wer weiß, ob nicht die Strapazen der Vorbereitung zu seinem vorzeitigen Ableben geführt hatten? So oder so traf es Eros sehr hart, als hätte der schreckliche Daniel ihm einen Schlag mit dem riesigen Rattanstock verpasst. Durch Jean-Louis’ Tod glückte das, was kein Unterricht, keine Lehrmethode, kein Lesebuch zuwege gebracht hatte: Die Buchstaben hörten auf zu blinken, die Silben hörten auf, sich zu verdrehen, die Wörter gerieten nicht mehr durcheinander. Auf so brutale wie tragische Weise war es Eros wie Schuppen von den Augen gefallen – und er las. Inzwischen hatten seine Eltern vom Hausarzt der Familie eine sachkundige Diagnose erhalten: Ihr kleiner Junge sei hochgradig legasthenisch und dysorthographisch. Selbst wenn er dem Analphabetismus entgehe, würde für ihn die Schriftsprache immer eine offene Fallgrube bleiben.

      Da ist es kein Wunder, dass er vierzig Jahre später begeistert die Idee aufgreift, mit Blumen statt Worten zu kommunizieren. Die beiden mühsam entzifferten Bände der Botanik für Damen erweisen sich als Quelle wertvoller Informationen. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit Alpenveilchen und Geranien lediglich Gefühle und Empfindungen ausdrücken kann, aber das ist immerhin etwas, außerdem hofft er, eine reichere Blumensprache zu entwickeln als jene, die er dank Odette Garnier, Victor Ravannas und der so treffend benannten Roselyne Saniette – Autorin seiner neuen Bibel – begierig aufgenommen hat.

      Auf den Märkten verkauft er inzwischen fertige Sträuße, mit rechteckigen Kärtchen versehen, die er trotz seines hinlänglich bekannten Handicaps hingebungsvoll selbst beschriftet. Demnach bedeutet ein Bund roter Amaryllis, weißer Hortensien und blauer Anemonen Auch wenn Sie mir zu kokett sind und ich unter Ihren Launen leide, vertraue ich Ihnen weiterhin, während Schwertlilien und feuerrote Levkojen von überschwänglicher Liebe künden – heute mehr als gestern und längst nicht so sehr wie morgen.

      Überdies ist mein Vater in der Lage, sich dem komplizierten Gefühlsleben seiner Kunden anzupassen und ihnen personalisierte Gebinde anzubieten. Möchte man um Verzeihung bitten oder um ein Rendezvous, eine Warnung aussprechen, seinem Bedauern über eine Indiskretion oder Verleumdung Ausdruck verleihen: Blumen können alles sagen und das tun sie ausgiebig. Bald schon ist er etwas überfordert, weil die Kunden nicht nur gern bei ihm bestellen, sondern ihm auch gern ihr Herz ausschütten.

      »Wissen Sie, Monsieur Marchesi, ich habe wirklich kein Glück: Immer falle ich auf Heteros rein, die nur mal sehen wollen, wie das ist, mit einem Kerl zu schlafen, einfach so, für eine Nacht, und zack sind sie wieder weg. Während ich mich emotional binde, daran kann mich doch keiner hindern, oder?«

      »Nein, ganz sicher nicht.«

      »Und so falle ich jedes Mal wieder auf die Schnauze.«

      »Ich stelle Ihnen ein paar Glockenblumen zusammen. Und Gelben Enzian.«

      Und so ähnelt mancher Strauß am Ende eher einem Apothekenrezept als einer Liebesbotschaft: Rosa Kamille für den unverstandenen Geliebten, gelbe Mädchenaugen für den glücklosen Rivalen, bunte Löwenmäulchen für den, der es gar nicht mehr erwarten kann. Gerade bei den leidenden Seelen wirken die Sanftmut und Geduld meines Vaters Wunder, sodass an seinem Stand jeden Sonntag ein Riesenandrang herrscht. Ich diene ihm als Aushilfe, binde Strauß um Strauß und befestige am Stängel der Aronstäbe, Kapuzinerkressen oder Hyazinthen jeweils ihre kleine Simultanübersetzung: Hören Sie auf Ihr Herz, Zu lieben ist Ihnen jetzt verwehrt, Die Hoffnung, die Sie mir schenken, entzückt mich. Währenddessen hält mein Vater die Hand eines untröstlichen Kunden und beschwört ihn, sich durch Blumen heilen zu lassen. Schlussendlich hat er seine Bestimmung gefunden und eine neue Einkommensquelle für das Liberty House: Dank seiner kodierten Sträuße und den therapeutischen Einlagen überweist mein Vater der Gemeinschaft stetig wachsende Beträge. Aber noch längst nicht genug, wie wir bald sehen werden. Dabei können zwar nicht alle arbeiten, aber alle können Geld verdienen, wie unser spiritueller Führer zu wiederholen nicht müde wird – und damit muss ich wohl auf einen weiteren der denkwürdigen Vorträge von Arkady zu sprechen kommen.

6.

      An diesem Tag arbeiten die gusseisernen Heizkörper mit Blumendekor auf Hochtouren, um uns unter lautem Gurgeln und Plätschern aufzuwärmen. Meine Großmutter kommt gerade von einem Urlaub auf Formentera zurück und ist in Topform. Neben ihr wirkt meine Mutter abgezehrter denn je, aber das will nichts heißen: Es geht ihr blendend, und sie wird uns alle überleben, mich eingeschlossen, da sie sich inzwischen jede Anstrengung und Sorge spart. Arkady steigt mit bekümmerter Miene auf die Kanzel, was mich wegen seines doch so unbeschwert-heiteren Gemüts ein wenig beunruhigt. Statt seines vergilbten Bündels von Pseudonotizen hat er eine Art großes Eintragungsbuch dabei, welches er auf das Pult legt, ohne dass seine Miene sich aufhellt.

      »Die Zahlen sind richtig schlecht. Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen soll, wenn es so weitergeht.«

      Diese merkwürdige Doppelung fällt ihm nicht auf, dem Publikum wohl auch nicht, das ihm wie üblich mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit schenkt. Ich bin die einzige, die sich Sorgen macht. Meine Großmutter kratzt sich Schorf von der sonnengebräunten Wade, Victor poliert seinen Knauf, Dadah neigt schon den greisen Kopf und Daniel starrt Löcher in die Luft. Daniel? Aber ja, er ist auch da, mit seinem Rattanstock bewaffnet und bereit, sämtliche Ratten der Welt zu Brei zu schlagen. Nur dass es im Liberty House keine Ratten gibt und dass unser Daniel nichts mit Daniel aus dem Lesebuch zu tun hat, samt Bauernhof, Mauleselin, Gänsen und der kleinen Valérie. Nein, es handelt sich um Victors Patensohn, einen mürrischen jungen Schlaks. Mir war nie recht klar, worin Victors Patenschaft besteht, vermutlich eher aus erotischen Praktiken denn rein erbaulichen Absichten. Jedenfalls hängt sich Daniel mit einer geradezu lasziven, betont auffälligen Ermattung an die Fersen seines Patenonkels, als wäre er gerade erst dem Brautbett entstiegen. Das kommt mir für Arkady eher kränkend vor, wobei es ihm gar nicht in den Sinn käme, ausschließliche Liebe zu verlangen. Und damit komme ich wieder auf die Liebe zu sprechen, mein eigentliches Thema, besser gesagt, das von Arkady an diesem Dezembermorgen. Noch redet er über die Jahresbilanz, man merkt ihm aber an, dass er dazu keine Lust hat und so schnell wie möglich zur Sache kommen möchte. Jetzt ist es soweit: Sein Blick bohrt sich in meinen, doch kaum nehme ich dies erfreut zur Kenntnis, funkelt er mit seinem hellen Auge Dadah an, bevor er Rehlein, Gladys, Epifanio, Daniel, Kinbote, Coco, Jewel, Salo und alle anderen ins Visier nimmt, all seine Schäfchen, die sich in wolliger Trägheit aneinanderkuscheln.

      »Omnia vincit amor!«

      Keiner von uns kann Latein, mit Vergils Losung sind wir allerdings vertraut, weil Arkady sie sich zwischen seine beiden Schulterblätter hat tätowieren lassen und sie alle naselang wiederholt. Liebe СКАЧАТЬ