Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
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Название: Arkadien

Автор: Emmanuelle Bayamack-Tam

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783906910796

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СКАЧАТЬ gehört, die nach und nach die Zunge des Wirtsfisches vertilgt, um dann ihren Platz einzunehmen, indem sie sich mit den Beinen am Stumpf festkrallt. Und was soll man zum Sackkrebs sagen, der seinen Sadismus bekanntlich an der Strandkrabbe auslebt, indem er, neben anderen Misshandlungen, deren Geschlechtsorgane umfunktioniert. Antispeziesisten wissen ja gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie behaupten, das Schlimmste spiele sich im Meer ab, auch wenn sie dabei nur an den Schaden denken, den die Schleppnetzfischerei anrichtet, aber vollkommen außer Acht lassen, was die Meerestiere sich gegenseitig antun. Und so kann Arkady sich noch so lang und breit über das beeindruckende Gehirn der Kopffüßer auslassen oder über die Solidarität unter Affen, mir ist das völlig schnuppe: Ich weiß nun mal Bescheid und werde auch künftig meinen Cheeseburger essen, im Gegensatz zu den Mitgliedern meiner erweiterten Familie und ohne dass sie es merken, da ich jeden Tag mit der ehrlichen Miene und dem matten Blick eines waschechten Vegetariers heimkomme – denn ich bin eine Schlange, was in unserem Eden einiges heißen will. Was soll’s. Ich stehe zu meinen Schandtaten, meinen Eidbrüchen und deren Verschleierung, wenn das die Voraussetzung sein soll für ein halbwegs friedliches Dasein an diesem Ort, den mein Umfeld beharrlich als Garten der Lüste betrachtet, und zwar aus purer Unfähigkeit heraus, die Seiten voller Mord und Blut zu lesen, die dort Tag für Tag geschrieben werden.

8.

      Als ich hier ankam, teilte ich die irrationalen Ängste meiner Eltern, doch mit den Jahren haben meine eigenen die ihren verdrängt. Bald bin ich fünfzehn, mit irgendwelchen Weichmachern oder elektromagnetischen Strahlen kann man mir keinen Schrecken mehr einjagen. Es liegt mir fern, deren schädliche Wirkung abzustreiten, doch in Wahrheit beunruhigt mich das, was der Mensch dem Menschen antut, weitaus mehr als Umwelthormone und krebserregende Substanzen. Wenn man schon eine Todesursache braucht, wäre mir eine lange Krankheit lieber als die Kugel einer Kalaschnikow: Bei einer langen Krankheit hätte ich Zeit, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, Zeit, die Freunde auszuwählen, die ich um mich scharen, und den Ort, an dem ich den Tod erwarten würde – tief im Herzen meines Reichs kenne ich eine Schlucht, nein, keine richtige Schlucht, nur eine kleine Bodensenkung, mit weichem Gras ausgelegt und von einem Nussbaumwäldchen umschlossen, die sich dafür perfekt eignet. Vorausgesetzt, ich sterbe nicht vorher, von einer Maschinengewehrsalve oder der Explosion einer Apexbombe dahingerafft. So unwahrscheinlich ein gewaltsamer Tod in meinem Fall auch ist, denke ich unwillkürlich an ihn, sobald ich die Umfassungsmauer des Liberty House hinter mir lasse, die im Fall einer Invasion zwar nichts Abschreckendes an sich hätte, aber sehr anschaulich macht, was uns von all jenen trennt, die sich nicht für den Weg der Weisheit in sieben Stufen entschieden haben.

      Was uns trennt, wird mir an jedem Werktag aufs Butterbrot geschmiert. Ich brauche nur in den Bus zu steigen, der die Schulkinder einsammelt, entlang eines Flusses, dessen Namen ich nicht nennen werde. Obwohl ich mich immer vorne hinsetze und meine Stirn an die Scheibe presse, heimse ich binnen einer halben Stunde so viele blöde oder beleidigende Bemerkungen ein, dass es für ein ganzes Leben reichen dürfte. Nicht, dass sich diese Bemerkungen gegen mich richten – gegen mich oder sonst jemanden. Sie werden geradezu mechanisch unter den Gymnasiasten gewechselt, und alles andere passt dazu: das Gegrinse, das Spucken, die Steppjacken mit den Kapuzen aus Webpelz, die Rucksäcke mit demselben schwarz-roten Logo, bei allen dieselbe Hässlichkeit, nur ich habe meine eigene. Es geht gar nicht darum, dass ich jeden Morgen aufs Neue von der Grobheit und Engstirnigkeit meiner Altersgenossen eingeholt werde: Wenn ich nur meine Schulzeit aushalten müsste, würde ich mich damit abfinden, vor allem, weil sie bald vorbei ist. Nein, mich beunruhigt, dass ich bei den Erwachsenen genauso wenig Güte spüre wie bei den Kindern – von den Jugendlichen gar nicht zu reden, denen Boshaftigkeit zur zweiten Natur wird. Außerhalb meiner kleinen geheimen Bruderschaft haben die Menschen keine Lust, gut zu sein, sie denken auch nicht daran, besser zu werden, nach Höherem zu streben, sich zu bilden. Mit ihrer krassen Ignoranz kommen sie sehr gut zurecht. Und wenn sie die Gelegenheit bekommen, auf mich zu schießen, werden sie es tun. Dafür braucht es keinen Grund: Wahnsinn reicht. In der Außenwelt heißt es alle gegen alle und jeder für sich – nein, nicht einmal das: Jeder tötet zunächst sein Inneres ab, denn man muss gestorben sein, ehe man in den Krieg zieht.

      Letztlich hat mich meine Erziehung weder darauf vorbereitet, Gewalt zu verstehen, noch darauf, sie zu erleiden – und erst recht nicht, sie anzuwenden. Um sich auf dem Gebiet der Barbarei auszukennen, genügt es nicht zu beobachten, wie Katzen Mäuse umbringen, oder regelmäßig mit dem Schulbus zu fahren, und das Problem mit den Menschen in meinem Umfeld, angefangen bei meinen Eltern, besteht darin, dass ihre Güte sie zu Schwächlingen macht. Im Fall eines Angriffs wären sie unfähig, sich wirksam zur Wehr zu setzen. Ein Glück, dass das Haus so schwer zugänglich ist. Da nur eine einzige Straße dorthin führt, werden wir den Feind schon von Weitem kommen sehen – so haben wir wenigstens Zeit, uns zu verschanzen, wenn wir schon nicht zu den Waffen greifen. Und dann komme, was wolle. Im Keller ist genug Proviant vorrätig, um einer mehrmonatigen Belagerung standzuhalten, und bekanntlich zeichnen sich Terroristen nicht gerade durch Geduld aus.

      Angst und Schrecken halten mich jedoch nicht davon ab, mich in die nächstgelegene Stadt zu wagen, deren Namen ich ebenfalls nicht nennen werde. Man sollte nur wissen, dass es sich um eine grenzüberschreitende Kommune von überschaubarer Größe handelt, wo so viele Straßen, Läden und Cafés mit gut besuchten Terrassen zu finden sind, dass eine Fünfzehnjährige sich darin verlieren kann, und zwar genüsslich verlieren, von Passanten gestreift, aus denen Freunde werden könnten. Offenbar habe ich den Glauben an die Menschheit nicht vollends verloren, da ich auf ein Wunder hoffe, das mir unter allen Gesichtern ein bestimmtes zu erkennen geben wird, auf eine lichte Stelle in der dunklen Masse, auf einen unbekannten Freund, den ich als Erinnerung in mein schwebendes Schloss tragen werde. Denn das kommt erschwerend hinzu: Weil mir ständig die Lehre leidenschaftlicher Liebe eingetrichtert wird, weil ich ständig die Glutsprache des Begehrens zu hören bekomme, denke ich nur noch daran. Deswegen suche ich trotz meiner panischen Angst vor Überfällen und Anschlägen unter den Lichtern der Stadt weiterhin nach der verwandten Seele, selbst wenn ich schnurstracks in die Geborgenheit meiner Dachkammer zurückeile, selbst wenn ich zu meiner geheimen Senke renne, um mich dort einzuigeln, oder zur Gabelung eines Nussbaums, selbst wenn ich meinen Vater in seinem nach Freesien duftenden Treibhaus aufsuche, wo mir nichts passieren kann. Dabei will ich doch unbedingt, dass mir etwas passiert, und darüber hinaus weiß ich nicht mehr, ob ich mir die Zuneigung meiner Angehörigen wünschen soll, die vom Blumenhauch beschlagenen Glasscheiben, das italienische Gurren von Fiorentina in ihrer Küche, das groteske, aber harmlose Watscheln von Victor, die erstarrten Harztropfen am Stamm meiner Pinien, den betörenden Duft des Sommers, den blauen Himmelsfleck inmitten metallgrauer Gewitterwolken, das Klingeling unsichtbarer Herden, die Katze, die mir hartnäckig auf meinen Geheimpfaden folgt – meine Zone, die es gegen alles und jeden zu verteidigen gilt, auch und zuerst gegen mein Verlangen, auf Abwegen zu wandeln. Denn mir ist durchaus bewusst, dass ich das Liberty House mit diesen unvermeidbaren jugendlichen Impulsen von innen her bedrohe.

      Ich bin fünfzehn und ich will nicht sterben, klar, jedenfalls nicht in einem Kugelhagel oder unter den Trümmern eines zerbombten Flughafens. Ich will aber auch nicht vollständig und für alle Zeiten verschont bleiben, oder anders gesagt: Ich bin fünfzehn und ich will gern sterben, aber nicht, bevor ich geliebt wurde, nicht, bevor ein Daumen meinen Wangenknochen berührt hat. Eine sehr merkwürdige Formulierung, ja, ich weiß, man muss es gesehen haben, um es zu verstehen, muss gesehen haben, wie Arkady mit einem ebenso zärtlichen wie bohrenden Daumen Victors Gesicht streichelt, um zu verstehen, warum es wahr ist, ja, die Liebe siegt über alles, und warum ich es laut und deutlich sagen kann, ich habe diesen Sieg ja miterlebt, diese Rettung in letzter Minute von allem, was drohte zu versinken, verlorenzugehen, Schaden zu nehmen. Jetzt wird es aber Zeit für mich, gerettet zu werden und gewisse Versprechen erfüllt zu sehen.

      »Nächste Woche werde ich fünfzehn. Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast?«

      »Keine Ahnung.«

      »Wenn ich fünfzehn bin, wirst du mit mir schlafen.«

      »Habe СКАЧАТЬ