Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
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Название: Arkadien

Автор: Emmanuelle Bayamack-Tam

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783906910796

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СКАЧАТЬ zu rücken: den Gehstock mit Elfenbeinknauf, das karmesinrote Einstecktuch, die Manschettenknöpfe, die wohlgeordnete Fülle seiner schneeig schimmernden Locken. Leider werden alle Mühen, die er auf seine Erscheinung verwendet, von seiner unförmigen Hose mit Gummizug ruiniert, dem einzigen Modell, das solch eine knietief hängende Plautze zu fassen vermag. Auch wenn ich weiß, wie sehr Arkady jede Form von Monströsität toleriert, frage ich mich doch, wie ihr Sexualleben aussieht. Dessen ungeachtet lautet Victors Spitzname im Liberty House tatsächlich »Monsieur Mirror«. Und so wird man mir bestimmt nachsehen, dass ich Arkadys Schmährede gegen diese Spiegel für eine Art von Kritik am zügellosen Narzissmus seines Liebhabers gehalten habe. Schließlich war er selten so leidenschaftlich und überzeugend wie an jenem Tag, an dem er uns in die Kapelle zusammentrommelte, um uns jeglichen Blick auf spiegelnde Oberflächen zu untersagen. Seine Stimme vibrierte vor Eindringlichkeit, seine Wangen röteten sich, seine Faust flog nach oben oder stürzte auf das schwere Eichenpult nieder, wenn er seiner Empörung trommelnd Ausdruck verlieh:

      »Nicht nur, dass die Spiegel zu eurer Seelenmarter beitragen – mir ist schleierhaft, was ihr dort erfahren oder nachprüfen wollt. Die Spiegel können euch nichts beibringen, rein gar nichts! Und sei es nur, weil sie ihren eigenen geometrischen Gesetzen folgen. Versucht doch mal, die linke Hand vor eurem Spiegel zu erheben, dann werdet ihr feststellen, dass euer Ebenbild die rechte hebt!«

      Arkady lässt den Blick über seine Zuhörer schweifen, über all die offenen Münder und wackelnden Köpfe, die nur eines anstreben: die positive Bewertung ihres Schönheitskapitals. Sie haben wohl vergessen, dass man im Liberty House vor allem bei den weniger Begünstigten rekrutiert. Mit offensichtlicher Ausnahme meiner wunderschönen Mutter und meines Vaters, dem jeder Charme und regelmäßige Gesichtszüge bescheinigt, sehen alle anderen, ich inbegriffen, schauderhaft aus und können in der Tat von den Spiegeln keinerlei Trost erwarten. Arkady fährt fort:

      »Außerdem ist nichts kälter und glatter als ein Spiegel! Was kann er schon von eurer Wärme einfangen, euren Unebenheiten, eurem Innenleben, also genau dem, was euch ausmacht und von jedem anderen unterscheidet? Wisst ihr was?«

      Die Versammelten beben, atmen mit ihm ein und halten erwartungsvoll die Luft an. Arkady runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen und nimmt diesen herrischen Ausdruck an, der ihn in meinen Augen so unwiderstehlich macht.

      »Wir werden alle Spiegel im Haus verhängen oder umdrehen. Alle! Auch die Spiegel, die ihr im Zimmer oder im Bad habt. Verstanden? Liberty House soll zur spiegelfreien Zone werden!«

      Seine Schäfchen nicken, Arkady ist aber noch nicht fertig.

      »Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche von euch sogar Vergrößerungsspiegel besitzen. Das geht dann doch zu weit, meint ihr nicht? Jetzt mal ganz ehrlich: Welcher Teil – von euch, von mir, von uns – verdient so viel Aufmerksamkeit? Im Ernst?«

      In einer der Reihen vor mir nehme ich wachsende Unruhe wahr, ein Rascheln und Stöhnen: Dadah möchte sich zu Wort melden, und das dauert bei ihr immer eine gewisse Zeit, als müssten sich ihr altersschwaches Hirn und ihr ebenso altersschwacher Körper erst einmal aufwärmen und zurechtruckeln, um überhaupt zu funktionieren. Ein wütendes Schnauben, das Froufrou ihrer Rüschen, Zähneknirschen, das ungeduldige Hämmern ihrer Hand auf der Armlehne, dann ist sie so weit: »Arkady …«

      Ihre nach fast hundert Jahren Raucherei vermännlichte Stimme erhebt sich unter dem Kreuzrippengewölbe und schlägt alle in Bann – mit Ausnahme von Arkady, der sich durch nichts beeindrucken lässt. Man muss wissen, dass Dadah – mit bürgerlichem Namen Dalila Dahman – stets gesprochen hat, um Furcht zu wecken und Gehorsam zu fordern; und selbst, wenn sie das gar nicht fordern wollte, fürchtete man sie und gehorchte ihr, so wie ihr praktisch alles von Geburt an in den Schoß gefallen ist. Als steinreicher Spross einer Familie von Kunsthändlern war Dadah nichts Besseres eingefallen, als sich noch mehr zu bereichern, über jedes vernünftige, ja vorstellbare Maß hinaus, denn wer hat schon die Gehirnkapazität, die Größe eines Vermögens zu ermessen, das auf Millionen beziffert wird? Eins muss man Dadah allerdings lassen, sie wusste ihr Geld auszugeben, und im Gegensatz zu dem, was eine dämliche Volksweisheit behauptet, hat dieses Geld sie durchaus glücklich gemacht. Würden die Gebrechen des Greisenalters sie nicht an ihren Rollstuhl fesseln, wäre sie übrigens noch immer regelrecht glücklich und unempfänglich für das Leid von anderen, und zwar in einem Grade, wie man ihn maximal erreichen kann. Nun, da Arthritis und Emphysem sie davon abhalten, in ihren Privatjet zu springen, ist ihre Welt auf die Größe des Liberty House geschrumpft, das vor allem von ihr gesponsert wird. Doch obwohl sie Dutzende von solchen Wohlfahrtseinrichtungen großzügig fördern könnte, geizt Dadah bei ihren Spenden, während sie verschwenderisch mit Worten umgeht, die unsere mangelnde Dankbarkeit anprangern – und uns jeden Euro, den sie für Heizkosten und Landschaftspflege aufwendet, teuer bezahlen lässt. Ja, Reiche können ganz schön knickrig sein, trotzdem kenne ich außer Dadah niemanden, der Verpackungen aus Aluminium wiederverwendet und anderen rät, das Kochwasser für die Kartoffeln später zum Pflanzengießen oder Geschirrspülen zu benutzen. Mittlerweile ist sie in Fahrt geraten, und ich bin sicher, dass sie zu Arkadys großartigem Vortrag über die Spiegel einiges zu sagen hat.

      »Arkady, Vergrößerungsspiegel sind beim Schminken doch sehr praktisch, besonders in unserem Alter!«

      Mit ihren sechsundneunzig Jahren ist Dadah bei weitem die Älteste im Phalansterium, aber sie redet immer so, als wäre ganz Liberty House eine Seniorenresidenz. Dabei sind – einmal abgesehen von meiner erst zweiundsiebzigjährigen Großmutter und Victor, der da vorgibt, fünfzig zu sein – die meisten Gäste in der Blüte ihres Lebens. Es kommt Dadah jedoch gelegen, so zu tun, als stünden alle hier kurz vor ihrer Vergreisung. Auf der Kanzel sammelt Arkady seine Notizen zusammen, ein Bündel vergilbter Blätter, die vermutlich kaum Bezug zum Thema des Tages haben, aber er liebt es nun mal, seine Eloquenz mit solchen Requisiten zu unterstreichen und mit den Insignien der Gelehrsamkeit Eindruck zu schinden. Dalila Dahman muss sich warm anziehen.

      »Wozu die Schminke? Habt ihr jemals erlebt, dass jemand durch Make-up oder Lippenstift schöner wird? Das Gegenteil ist der Fall: Glaubt mir, mit jedem Lidstrich, jedem Tropfen Nagellack, jedem Puderhauch rückt ihr ein Stück weiter von aller Schönheit und Wahrhaftigkeit ab!«

      Dadah klammert sich an die Armstützen ihres elektrischen Rollstuhls für siebentausend Euro und bebt, weil sie sich angegriffen fühlt und gleichzeitig auf ein Wortgefecht mit ihrem Lebenscoach freut – denn so lautet die Rolle, die sie Arkady zuweist. Gleich bei ihrer Ankunft hat sie ihm ihre Seele anvertraut und voller Erleichterung deren Führung überlassen. Dennoch lehnt sie sich immer wieder wegen Kleinigkeiten auf, damit niemand vergisst, dass sie jederzeit ihre Freiheit – und ihr Geld – wieder für sich beanspruchen kann. Und so hebt sie zu einem Plädoyer für Blush und Wimperntusche an, die sie hartnäckig als Rouge und Mascara bezeichnet, trotzdem verstehen wir sie, vor allem, da sie beides im Übermaß aufträgt und uns das von Arkady gegeißelte Unnatürliche lebhaft vor Augen führt: asymmetrische, safrangelb bestäubte Wangenknochen, geschwollene, fettig glänzende Lippen, verspachtelte Falten, verklebte Wimpern. Neben ihr – natürlich nur im übertragenen Sinn, weil sie sich gegenseitig nicht leiden können und jede Tuchfühlung meiden – wirkt meine Großmutter so frisch und rosig wie ein Laib Reblochon. Man muss wissen, dass sie der Kosmetikindustrie schon lange vor ihrer Begegnung mit Arkady misstraute und lieber ihre von erweiterten Äderchen durchzogenen Wangen und ihr zerknittertes Dekolletee zur Schau stellt, als sich mit irgendeiner Creme zu behelfen – geschweige denn mit Skalpell oder Silikon.

      Arkady hört Dadah nur mit einem zerstreuten, vielleicht sogar ungeduldigen Ohr zu. Er mag ja gerontophil sein, doch die senilen Haarspaltereien, in denen Dadah regelmäßig schwelgt, gehen ihm schnell auf die Nerven. Leider hat sie sich nun des Themas bemächtigt und wird so bald nicht lockerlassen. Im Gegensatz zu Arkady, der immer mit einer Bühne und einem andächtigen Publikum rechnen kann, wenn er sich äußern möchte, bleibt Dadah inzwischen die willfährige Aufmerksamkeit versagt, die sie in ihrer Glanzzeit erlebt СКАЧАТЬ