Название: Arkadien
Автор: Emmanuelle Bayamack-Tam
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783906910796
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Im Liberty House schwimmen wir in Liebe – in der Liebe, die Arkady uns schenkt und die wir erwidern, aber auch in der Liebe, die wir einander entgegenbringen, selbst wenn das Gemeinschaftsleben unweigerlich zu Irritationen führt. Wir … Ich behaupte, dass ich dieses Pronomen verwenden kann, ohne dass es lächerlich wird, ohne dass es auf ein blutleeres, verkümmertes Gefüge wie die Paarbeziehung oder die Familie verweist. Ich behaupte sogar, dass mein Start ins Leben mich zur Spezialistin für das Wir macht, im Gegensatz zu den meisten Menschen, die davon keinen Schimmer haben und ein Leben lang nicht auf die Idee kommen, dass man etwas anderes sein kann als sein eigenes Ich. Ich war von Kindesbeinen an wir, das macht die Sache leichter. Nicht nur, dass ich Haus und Tisch mit mindestens dreißig Leuten jeden Alters und jeder Herkunft geteilt habe, ich musste auch auf eine besondere Nähe zu meinen Eltern und meiner Großmutter verzichten, die sich alle sehr bald auf neue Bindungen einließen und von der unverhofften Deregulierung ihres Sexlebens entzückt waren. Außerdem musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass Arkady allen gehörte. Darum kann ich wir sagen, ohne dass es anmaßend oder unpassend wäre. Darum bin ich auch nicht weiter erstaunt über Arkadys neue Predigt. Im Grunde regt er doch nur an, dass wir alles, was wir intra muros ausprobieren, auch außerhalb unserer Gemeinschaft zur Anwendung bringen, nämlich Selbstlosigkeit, schranken- und bedingungslose Lust und eine vollkommen freie, vollkommen wilde Liebe. Nach dieser gedanklichen Eskapade konzentriere ich mich wieder auf den Redner – den Mann meines Lebens, obwohl er das nicht wahrhaben will und diese Wendung keinerlei Sinn für ihn ergibt. Arkady ist beim Lauf der Welt angelangt, tatsächlich läuft die Welt verkehrt, weil sie nicht begreift, dass es reichen würde zu lieben, etwas Aufmerksamkeit und Wohlwollen aufzubringen, die unwiderstehliche Kraft des Begehrens so weit wie möglich zu teilen und zu verbreiten, um der Barbarei ein für alle Mal den Garaus zu machen.
»Wenn ich an diese vielen unglücklichen Menschen denke, die sich gegenseitig umbringen …«
Der Blick verliert sich in der Ferne, die Stimme wird unstet, die Aussage vage. Wir werden nicht erfahren, ob er an die jüngsten Attentate denkt oder an den Krieg in Syrien, auch wenn er aus diesem Land stammt. Vielleicht ist er dort nur geboren, da er praktisch nie darüber spricht und von seiner Herkunft und Lebensgeschichte ohnehin kaum etwas preisgibt, als hätte diese erst mit Victor und dem Liberty House begonnen. Davor nichts oder nur sehr wenig: Er ist in Syrien geboren, hat im Libanon gelebt, in der Schweiz, in Polen – also nirgends, beziehungsweise in Ländern, die keinem etwas sagen. So oder so ist die Liebe seine Heimat, das Liberty House, wir. Darum pocht mein Herz so heftig, wenn ich ihn ansehe und ihm zuhöre, im Einklang mit seinen Gefühlen, seiner Empörung, seinem Mitleid, seiner unermesslichen Trauer über die törichten Gesetze, die das Leben bestimmen. Ich bin in ihm, wie er in mir, was für alle Mitglieder unserer kleinen freiheitlichen Bruderschaft gilt. Liebe besiegt alles, wer wüsste das besser als ich, nachdem ich erleben durfte, wie er den Wahn meiner Eltern besiegt hat, ihre Soziopathie, ihre krankhafte Unentschlossenheit, ihre suizidalen Anwandlungen, ihre depressiven Anfälle, ihre vielfältigen Phobien, ihre Unfähigkeit, sei es, ein Kind aufzuziehen, sei es, für sich irgendeine Art von Zukunft zu entwerfen. Ich habe gesehen, wie sie, von Arkady geliebt und angeleitet, ihre zusammengeknüllten Seelchen so weit entfalteten, dass sie zu umgänglichen Erwachsenen wurden – auch wenn sie noch längst nicht reif genug sind, aber was soll’s, ich habe mich daran gewöhnt und bin reif genug für drei.
Auch wenn wir vor neuen Technologien geschützt sind, heißt das nicht, dass uns keine Nachrichten erreichen: Ihre Wellen branden gegen die Feldsteinmauern, die das Anwesen einfrieden. Victor lässt sich täglich eine eklektische Auswahl von Printmedien zustellen und verbringt den Vormittag mit der Lektüre von Le Monde, La Croix und Le Figaro – ja, auf diese drei beschränkt sich sein Eklektizismus, die auch uns, sobald Monsieur Mirror sie gewissenhaft durchgelesen und ihre Seiten zerknittert und beschmutzt hat, zur Verfügung stehen. Nicht dass er besonders schmutzig wäre oder seine Hände nie abwischt, aber er sondert ständig eine Art fettigen Dunst ab. Allein deswegen begnüge ich mich oft mit den Kommentaren der anderen, um mich über das Tagesgeschehen zu informieren. Außerdem habe ich in der Schule leicht Zugang zum Internet und mache davon ausgiebig Gebrauch. Schließlich bin ich gegen rein gar nichts hypersensibel und selbst wenn, würde ich es um nichts in der Welt meinen Glaubensgenossen verraten, erst recht nicht meinen Eltern; ich bin nicht gerade froh darüber, in einer weißen Zone zu leben, und ich gäbe alles für ein iPhone. Andererseits bietet das Leben im Liberty House so viel, dass ich bestimmt nicht weinen werde, nur weil man mir den Zugang zu sozialen Netzwerken erschwert. Ich habe meine eigenen Netzwerke. Sie schlängeln sich unter den Buchen und Eschen, sie kreuzen die Pfade der Stare und Eichhörnchen, sie führen an Wiesen und Hochwäldern entlang, an Herbstzeitlosen, die in aller Unschuld ihre giftigen Staubblätter öffnen, an Brombeersträuchern, die ebenfalls in aller Unschuld mit ihren schwarzen Ranken Fallen stellen. Ich bin glücklich. Ich brauche weder Periscope noch WhatsApp oder Snapchat.
Während ich wieder einmal in Gedanken abgedriftet bin, hat Arkady seinen Dienstbefehl formuliert: Er beschwört uns, in die Welt hinauszugehen, um sämtliche leidenden Seelen, die wir dort zwangsläufig antreffen würden, mit Liebe zu überschütten. So einfach und großherzig dieses Programm klingt, ist es in Wahrheit eine Rekrutierungsoffensive, die auf reiche Leute abzielt. Natürlich darf man jeden und alle lieben, von dieser Möglichkeit macht Arkady selbst regen Gebrauch und vögelt sich ohne Ansehen der Geschlechts- oder Alterszugehörigkeit durch, wenn wir aber unser gemeinsames Dach und unser beschauliches Landleben erhalten wollen, müssen wir etwas wählerischer werden. Das Beste wäre, schwerreiche Witwer oder in Ungnade gefallene Erben für unsere Sache zu begeistern, damit das viele Geld sinnvolle Verwendung fände. Sicher, wir haben Dadah, doch sie überweist der Gemeinschaft nur einen winzigen Bruchteil ihres Vermögens und weigert sich hartnäckig, Arkady in ihrem Testament zu bedenken, außerdem droht sie ständig damit, uns zu verlassen und ihre großzügigen Gaben auf irgendeinen Neffen zu verwenden, der so bestechlich wie undankbar sein dürfte. Fortbestand und Wohlergehen des Phalansteriums hängen von der Diversifizierung seiner Einkommensquellen ab und wir alle können zu dieser Diversifizierung etwas beitragen.
»Ihr seid meine Liebesschwadrone«, brüllt Arkady. »Los, raus mit euch! Stürmt die Straßen und Plätze, sprecht die Leute an, erzählt ihnen von unserem Experiment. Sie warten nur darauf, dass man mit ihnen über Liebe redet, dass man sich für ihre Seele interessiert, dass man sie überhaupt an die Existenz dieser Seele erinnert! Die sie selbst wahrscheinlich vergessen haben.«
Da hat er nicht Unrecht. In der Außenwelt, ob in der Schule oder auf dem Markt, redet mit mir niemand über seine oder meine Seele. Neben mir zappelt Daniel herum, stöhnt und lässt mich an seiner Ungeduld teilhaben:
»Ist das jetzt eine Heilige Messe oder was?«, flüstert er in mein offenes Ohr. Aber ja, in gewisser Hinsicht schon, und warum auch nicht? Obwohl ich selbst nie hingegangen bin, habe ich die katholische Liturgie schließlich mit jeder Pore aufgenommen, da mir ständig Reliquiare, Heiligenlegenden oder Fotos verzückter Nonnen begegnen. Sechzig Jahre nach dem Auszug der Schwestern vom Heiligsten Herzen atmen die Wände des Liberty House noch immer Frömmigkeit, während Arkady selbst im Ritus der Syrisch-Orthodoxen Kirche erzogen wurde. Auch wenn er selten darauf zu sprechen kommt, hat er sich eine gewisse Vorliebe für Goldornamente, lockige Bärte, purpurne Messgewänder und Zauberkunststücke bewahrt: Jagt man die Religion zur Tür hinaus, springt sie durch das Fenster wieder herein. Als unser Gemüsegarten im Vorjahr von Blattläusen befallen wurde, sprach Arkady sogar ein Exorzismusgebet, das er einer zweisprachigen, in schwarzes Chagrinleder mit Goldprägung gebundenen griechisch-arabischen Handschrift entnommen hatte, dem Erbstück einer kykladischen Großtante. Im Namen der Cherubim und Seraphim wurden zwanzig verschiedene Arten von bösartigen Winzlingen mit Nachdruck aufgefordert, Auberginen und Chinakohl unverzüglich zu verlassen, und ich muss zugeben, dass die Schädlinge sich sofort aus dem Staub machten, vermutlich vor lauter Schreck über Arkadys Vehemenz, gut möglich aber auch, dass es an der Schmierseife lag, die wir wild versprüht hatten.
So oder so habe ich, wie alle anderen, meine Anweisungen СКАЧАТЬ