Название: Telefónica
Автор: Ilsa Barea-Kulcsar
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783990650219
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»Danke«, sagte André. »Ich bleibe, ich muß hinauf und die letzte Febus-Ausgabe für meinen Artikel durcharbeiten. Ihr vergeßt, daß ich am frühen Morgen nach Paris durchgeben muß. Kommt gut nach Hause.« Er wollte sich zu Moreno wenden, aber der sprach unerwarteterweise mit einer Frau: Pepa, die aus dem Keller gekommen war und in den achten Stock wollte.
Also stand André noch einen Augenblick lang unter der Tür und sah den beiden Amerikanern nach, wie sie durch das Dunkel stolperten. Am Straßeneck lag ein Schutthaufen – Mörtel, Ziegel, Glas. Die Granate hatte das Haus gegenüber getroffen, um fünf Uhr nachmittags. Keine Verletzten. Von irgendwoher fuhr ein Auto vor. Aus dem Nichts, von dort her, wo er die Mitte der Gran Vía wußte, kam der schroffe Haltruf des Postens. Die Front und der Himmel waren still. In der Nachbarstraße der Peitschenknall eines Gewehrschusses.
»Ein Paco«, sagte André automatisch. Paco hieß man die faschistischen Dachschützen. Aber als kein weiterer Schuß folgte, verbesserte er: »Ein Posten, der auf das Licht in einem Fenster schießt.«
Der Soldat, der als unförmiger Klumpen neben ihm in der finsteren Ecke stand, sagte aus seiner Decke heraus: »Ja, ein Posten. Das ist nichts. Sicher ist ihm das Gewehr losgegangen, das ist mir auch einmal passiert. Es ist sehr kalt …«
VII.
Anita hatte den Dienst übergeben und hatte nun eigentlich im Zensurzimmer nichts mehr zu tun. Aber sie konnte sich nicht entschließen, es zu verlassen. Sie setzte sich auf die Kante eines der Feldbetten – Drahteinsatz, zerlegene Matratze, schmutzige Decke – und sah dem Kollegen zu, der im fahlen, engen Lichtkreis der Schreibtischlampe mit den Papieren hantierte. Sie konnte mit diesem jungen Spanier nicht reden, das war klar. Er hatte ein stumpfes, uninteressantes, breiiges Gesicht; er sprach weder Englisch noch Französisch geläufig; er war ein ängstlicher kleiner Ministerialbeamter, der den Einlauf des Tages gewissenhaft durchlas, fortwährend Worte in seinem schlechten Wörterbuch nachschlagend. Mit Anita zu sprechen, kam ihm gar nicht in den Sinn. Und sie fand keinerlei Kontakt mit ihm, sie spürte nur seine Gleichgültigkeit der Arbeit gegenüber und seine Furcht vor allem. Dieser da war fremder als sie in der Telefónica. Sie beobachtete, wie sein runder Schädel in den Lichtkreis tauchte, der alle Züge auslöschte, und wieder in den Schatten zurückkehrte, wo man ihn vergaß, so wenig Leben war in ihm.
In Wahrheit dachte er unablässig daran, wann er für sich und seine Schwester einen Platz in einem Lastwagen zugewiesen erhalten würde, um seine Übersiedlung nach Valencia durchzuführen. Das Ministerium hatte alle Beamten dorthin berufen. Hier konnte man nicht mehr arbeiten, nichts klappte mehr, das improvisierte Büro in der Telefónica funktionierte nach ganz anderen Regeln als den ihm bekannten, die Luft war hier anders. Die Wache unten hielt keine Ordonnanz, sondern ein aufgeregter Anarchist, die Weisungen vom Chef in Valencia kamen nicht pünktlich durch und verloren ihre Autorität. Die Zensur hatte neue Mitarbeiter, wie diese merkwürdige Ausländerin – und man wußte nicht recht, wer hinter ihnen stand. Und dann noch die Bomben, die Granaten, die Massen auf der Straße, die neuen Behörden, die Gewißheit, daß eines Tages oder eines Nachts (vielleicht eben jetzt) Franco neuerlich vorstoßen und durchbrechen wird, und daß man zwischen der Wildheit der Moros und der wilden Brutalität der Verteidiger zugrunde geht; wann, wann endlich würde er einen Platz finden, wann würde das Lastauto des Ministeriums mit den Akten und Kopiermaschinen dieses Madrid verlassen? Hier hatte ja nichts mehr einen Sinn.
Anita vergaß, daß sie nicht allein war, sie ließ sich gehen und versuchte nicht, ihre Gedanken in Ordnung zu halten. Alle Journalisten waren der Ansicht gewesen, daß heute nacht nichts geschehen würde, aber morgen – was wird morgen geschehen? Es ist sicher wahr, man spürt es in den Knochen. Brechen Francos Truppen durch? Wird die Telefónica zerstört und werden wir alle dabei draufgehen? Wird die Verwirrung so sein, daß jede Arbeit unmöglich wird? Wird die Stimmung in Madrid umschlagen? Die Fünfte Kolonne? Flieger?
Sie wußte nicht, was sie mit sich selbst anfangen sollte. Gern hätte sie den Dienst für die ganze Nacht übernommen, nur um hier im Arbeitsraum bleiben, auf diesem jämmerlichen Bett schlafen, Teil dieses Hauses sein zu dürfen.
Sie dachte: Der große Ventilator summt wie ein Flugzeugmotor. Wenn hier eine Granate einschlägt, wird es wenigstens sofort gemeldet; es gibt Menschen, die feststellen, wer man ist. Allein sterben muß scheußlich sein. Es ist zwar gleichgültig, aber ich fürchte mich davor. Warum vor dem Sterben und nicht vor dem Verkrüppeltwerden? Es gibt immer viel mehr Verwundete als Tote. Aber das, wovor ich Angst habe, ist doch das Aufhören. Ich. Das ist jetzt nicht so viel. Man sollte wenigstens hier einen Menschen haben, mit dem man Freund ist. Liebe ist Angst vor dem Alleinsein.
Ich bin eine dumme Gans, wie mir die literarische Bildung im Nacken sitzt. Zitate. Aber warum nicht? Es gibt noch so was von Storm: »Halte fest, du hast im Leben doch am Ende nur dich selber.« Das ist wahr, aber ich will nicht, daß es wahr sei. Wahr sei – komisch, daß ich in runden, grammatikalisch korrekten Sätzen denke. Aber wenn man sich zuhört, denkt man immer in Sätzen. Oder in stenographischen Siglen. Sicher will ich mich jetzt an etwas festhalten, was klare Form hat. Ich habe Angst vor dem Alleinsein. Deshalb arbeite ich so. Warum bin ich hier? Warum muß ich hier sein? Er läßt mich nicht aus, ich kann nicht weg, auch wenn ich will, ich bilde mir ein, daß ich hierher gehöre. Aber es ist wahrscheinlich ein Unsinn. Wichtigkeit – Pressezensur! Aber – machen, daß die draußen wissen, was hier los ist. Daß man kämpft. Damit es nicht umsonst ist. Das Schreckliche ist, wenn es umsonst ist. Oder nicht? Ich weiß es nicht mehr recht. Man muß tun, was man für recht und richtig hält, man muß leben und sterben, wie man es ganz ehrlich will. Aber was ist ganz ehrlich? Ich mag kein politisches Wort mehr denken. Aber es gibt doch so was wie Freiheit und Würde. Hältst du dir politische Reden, meine Liebe? Weil du allein bist? Ich müßte doch spüren, daß Georg an mich denkt, daß ich einen Menschen habe. Sie versucht, sich ihren Mann vorzustellen und zärtlich an ihn zu denken. Aber es war gewolltes Denken. Sie fand plötzlich, daß er zu jenem anderen Leben außerhalb von Madrid gehörte. Sie sagte sich vor: »Liebling, lieber Junge, sei nicht bös auf mich, ich hab dich doch sehr lieb, denk an mich …« Aber es gab ihr keine Wärme, es war eine allzu bewußte Anstrengung, so, als ob sie die vertraute Anhänglichkeit ihres Mannes wie einen schützenden Mantel über sich hätte breiten wollen. Sie erschrak über ihre eigene kühle Losgelöstheit und sprach plötzlich, ohne es zu wissen, laut aus: »Nein, so nicht, nein.«
Der Zensor blickte erstaunt auf. Die Ausländerin saß dort auf dem Bett, in ihrem dicken, häßlichen Mantel zusammengesunken. Das Gesicht sah er nicht, es war ihm auch lieber so; es hatte mit ihr nichts zu tun und sie sollte endlich nach Hause gehen. Er überlegte sich einen französischen Satz mit nicht zu schwieriger Aussprache und sagte endlich: »Madame, haben Sie Angst, allein ins Hotel zurückzukehren?«
Anita fuhr in die Höhe wie ein Schulmädchen und antwortete: »Ich – ich habe gar keine Angst. Ich ruhe mich nur aus, bevor ich zur Konferenz mit dem Kommandanten Sánchez gehe.« So, da hatte er es. Aber im gleichen Augenblick kam sie sich lächerlich vor und das gab ihr die innere Heiterkeit und Ruhe zurück. Unbefangen blieb sie noch einige Minuten sitzen und überlegte nun wirklich das kommende Gespräch mit dem Spanier. Gut, daß sie das noch vor sich hatte, der Mann war nicht so übel, mit ihm würde man wenigstens auf gleicher Ebene stehen. Nicht so wie die Journalisten, die eigentlich alle zu den anderen, den Gegnern, gehörten, weil sie Angst hatten, ihre Distanz zu den Dingen zu verlieren.
Ja, nun wollte sie sich doch zuerst ein wenig menschlich herrichten. Die Nase pudern, die Hände waschen. Wie lächerlich es ist, in einem fremden Land die Toilette zu finden. Sie fragte den Zensor, aber sie verstand ihn nicht recht. Macht nichts, sie würde eben gleich in den achten Stock gehen.
Anita schritt rasch durch den dunklen, engen Korridor, vorbei an einer schattenhaften, schnarchenden Ordonnanz, fand die kleine Seitentür und stand plötzlich im lichtlosen СКАЧАТЬ