Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
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Er drehte sich krampfhaft nach der Wand hin; Nastasja ging hinaus.
VI
Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür verriegelte, das Bündel mit den Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder zugebunden hatte, aufband und anfing sich anzukleiden. Sonderbar: jetzt schien er auf einmal ganz ruhig geworden zu sein; sowohl das halb irrsinnige Phantasieren von vorhin als auch die panische Furcht der ganzen letzten Zeit waren verschwunden. Es war der erste Augenblick einer seltsamen, plötzlich eingetretenen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und sicher und bekundeten eine feste Absicht. ›Heute noch, heute noch! …‹ murmelte er vor sich hin. Er merkte indes, daß er in Wirklichkeit noch recht schwach war und daß nur eine sehr starke geistige Spannung, die sich bis zu einem Ruhezustande, zu einer starren Idee gesteigert hatte, ihm Kraft und Selbstvertrauen verlieh; er hoffte indes, daß er auf der Straße nicht hinfallen werde. Nachdem er sich vollständig neu gekleidet hatte, warf er einen Blick auf das Geld, das auf dem Tische lag, überlegte einen Augenblick und schob es in die Tasche. Es waren fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Geld, das Rasumichin bei dem Kleiderkauf von den zehn Rubeln herausbekommen hatte, lauter Fünfkopekenstücke. Dann machte er leise den Riegel auf, trat aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinunter und blickte in die Küche hinein, deren Tür weit geöffnet war. Nastasja stand da, mit dem Rücken ihm zugewendet, und blies gebückt die Glut in dem Samowar der Wirtin an. Sie hörte nichts. Und wer konnte auch auf den Gedanken kommen, daß er fortgehen werde? Eine Minute darauf war er auf der Straße.
Es war gegen acht Uhr; die Sonne ging unter. Es herrschte noch dieselbe stickige Schwüle wie vor einigen Tagen; aber gierig sog er diese übelriechende, staubige, verdorbene Großstadtluft ein. Anfangs empfand er ein leichtes Schwindelgefühl; aber eine Art von wilder Energie blitzte plötzlich in seinen entzündeten Augen und auf seinem abgemagerten, blaßgelben Gesichte auf. Wohin er eigentlich ging, wußte er nicht und überlegte er nicht; er wußte nur das eine, daß »diese ganze Sache« heute noch zu Ende kommen müsse, mit einem Male, sofort; daß er, wenn das nicht geschehe, nicht nach Hause zurückkehren werde, weil er »so« nicht länger leben wolle. Aber wie und wodurch er die Sache zu Ende bringen solle, davon hatte er keine Vorstellung und mochte auch gar nicht daran denken. Er verscheuchte diesen Gedanken, der ihm Pein verursachte. Nur das eine fühlte und wußte er, daß alles anders werden müsse, auf die eine oder die andre Weise; ›ganz gleich, wie‹, wiederholte er fortwährend mit einer verzweifelten, starren Zuversichtlichkeit und Entschlossenheit.
Nach alter Gewohnheit lenkte er seine Schritte geradeswegs nach dem Heumarkte, dem üblichen Ziele seiner früheren Spaziergänge. Noch ehe er den Heumarkt erreichte, traf er auf einen jungen schwarzhaarigen Leierkastenmann, der auf der Fahrbahn vor einem kleinen Laden stand und ein sehr sentimentales Lied spielte. Er begleitete damit ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem Trottoir stand, ganz wie eine Dame der besseren Stände gekleidet, mit Krinoline, Mantille und einem Strohhute, auf dem eine feuerrote Feder prangte; nur war alles alt und abgetragen. Mit einer zitternden Bänkelsängerstimme, die aber doch ganz angenehm und kräftig klang, sang sie in Erwartung eines Zweikopekenstücks aus dem Laden ihr Lied herunter. Raskolnikow blieb neben zwei oder drei andern Zuhörern stehen, hörte ein Weilchen zu, holte ein Fünfkopekenstück heraus und legte es dem Mädchen in die Hand. Das Mädchen unterbrach sofort ihren Gesang bei der gefühlvollsten, höchsten Note, wie abgeschnitten, rief dem Leierkastenmann schroff zu: »Genug!«, und beide wanderten langsam nach dem nächsten Laden.
»Hören Sie solchen Straßengesang gern?« fragte Raskolnikow einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm bei dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Dieser blickte ihn befremdet und erstaunt an. »Ich höre es gern«, fuhr Raskolnikow fort, aber in einem Tone, als ob er nicht über gewöhnlichen Straßengesang spräche, »ich höre es gern, wenn an einem kalten, dunklen, feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, und es muß gerade ein feuchter Abend sein, wo alle Leute auf der Straße blaßgrüne, kränkliche Gesichter haben, oder noch besser, wenn bei ruhiger Luft nasser Schnee ganz senkrecht herunterfällt, wissen Sie, und die Gaslaternen so durch die Flocken hindurchblinken.«
»Ich weiß nicht … Entschuldigen Sie …«, murmelte der Herr, betroffen über die Frage und über Raskolnikows sonderbares Aussehen, und ging nach der andern Seite der Straße hinüber.
Raskolnikow ging geradeaus weiter und kam zu der Ecke am Heumarkte, wo jener Kleinbürger und seine Frau ihren Handel hatten, die damals das Gespräch mit Lisaweta führten; aber sie waren jetzt nicht mehr da. Als er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, blickte um sich und wandte sich an einen jungen Burschen in rotem Hemde, der am Eingange eines Mehlladens gähnte.
»Hier an der Ecke hat doch sonst ein Händler, ein Kleinbürger, mit seiner Frau seinen Stand, nicht wahr?«
»Es gibt viele Händler«, antwortete der Bursche und musterte Raskolnikow von oben herab.
»Wie heißt der hier?«
»Wie er getauft ist, so heißt er auch.«
»Bist du nicht auch aus Saraisk? Aus welchem Gouvernement bist du?«
Der Bursche musterte den Fragenden von neuem.
»Bei uns, Ew. Erlaucht, ist gar kein Gouvernement, nur ein Kreis; und mein Bruder, der ist viel herumgereist und klug geworden; aber ich habe immer zu Hause gesessen, und darum weiß ich auch nichts. Also wollen Ew. Erlaucht gnädigst verzeihen.«
»Ist das da oben eine Speisewirtschaft?«
»Das ist ein Restaurant, und ein Billard ist auch da, und Damen wie die Prinzessinnen, vallera!«
Raskolnikow überquerte den Platz. Dort stand an der Ecke ein dichter Menschenhaufe, lauter einfaches Volk. Er drängte sich mitten hinein und betrachtete die Gesichter. Es regte sich in ihm ein unklarer Wunsch, mit all diesen Leuten Gespräche anzuknüpfen. Aber sie beachteten ihn gar nicht und lärmten und schrien unter sich in dichten Gruppen. Er stand ein Weilchen, überlegte und ging dann nach rechts, das Trottoir entlang, in der Richtung nach dem W…-Prospekte. Als er den Platz verlassen hatte, geriet er in eine Seitengasse.
Er war auch früher schon häufig durch diese nur kurze Gasse gekommen, die ein Knie bildet und vom Heumarkte nach der Sadowaja-Straße führt. In der letzten Zeit hatte es für ihn sogar einen besonderen Reiz gehabt, sich in dieser ganzen Gegend umherzutreiben, wenn ihn das Dasein anekelte: »damit der Ekel noch schlimmer würde«. Jetzt aber war er ohne jede Absicht hierhergekommen. Da war ein großes Haus, ganz voll von allerlei Speisewirtschaften und Kneipen; aus diesen kamen alle Augenblicke Frauenzimmer herausgelaufen, so gekleidet, wie es auf der Straße nur bei Besuchen in der nächsten Nachbarschaft üblich ist: mit bloßem Kopf und ohne Umhang. An einigen Stellen bildeten sie auf dem Trottoir dichte Gruppen, namentlich an den Eingängen zum Souterrain; auf zwei Stufen stieg man dort zu verschiedenen, sehr vergnüglichen Etablissements hinunter. In einem derselben wurde gerade ein Heidenlärm vollführt, der über die ganze Straße herübertönte: es wurde auf einer Gitarre geklimpert, Lieder wurden gesungen, es ging sehr lustig her. Ein großer Haufe von Frauenzimmern drängte sich vor dem Eingange; einige saßen auf den Stufen, andre auf dem Trottoir, wieder andre standen und unterhielten sich. Daneben auf dem Straßendamm taumelte laut schimpfend ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette umher; er wollte anscheinend irgendwo hineingehen, hatte aber wohl vergessen, wo. Zwei zerlumpte Kerle schimpften aufeinander ein, und ein sinnlos Betrunkener lag mitten auf der Straße. Raskolnikow blieb bei dem großen Weiberhaufen stehen. Diese Frauenzimmer sprachen mit heiseren Stimmen; sie trugen sämtlich Kattunkleider und ziegenlederne Schuhe und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt; aber es gab darunter auch solche, die nur siebzehn alt sein mochten. Fast alle hatten blaue Flecke von Schlägen im Gesicht.
Ihn interessierte der Gesang und der ganze Spektakel da unten … Man konnte durch СКАЧАТЬ