Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
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»Lieber Schutzmann, hau mich nicht,
Schuldlos bin ich armer Wicht«,
ertönte die hohe Stimme des Sängers. Raskolnikow gab sich viel Mühe, den Text des Liedes zu verstehen, als ob das für ihn von der größten Wichtigkeit wäre.
›Ob ich nicht auch hineingehe?‹ überlegte er. ›Wie die da lachen in ihrer Betrunkenheit! Wie wär’s, wenn ich mich auch betränke?«
»Wollen Sie nicht mit hereinkommen, lieber Herr?« sagte eines der Frauenzimmer mit ziemlich wohlklingender und noch nicht besonders heiserer Stimme.
Sie war jung und keineswegs abstoßend – die einzige aus der ganzen Gruppe.
»Sieh mal, was du für ein hübsches Mädel bist!« antwortete er, indem er sich aufrichtete und sie ansah.
Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr sehr.
»Sie sind ja selbst auch ein sehr hübscher Herr!« erwiderte sie.
»Aber was sind Sie mager!« bemerkte eine andre mit einer wahren Baßstimme. »Sie sind wohl eben aus dem Krankenhause entlassen?«
»Ihr seid wohl lauter Generalstöchter, aber alle habt ihr Stupsnasen!« unterbrach das Gespräch ein hinzutretender Bauer mit einem verschmitzten Lächeln auf dem breiten Gesichte; er war angeheitert; sein langer Rock stand weit offen. »Hier geht es lustig zu!«
»Geh doch hinein, da du einmal hergekommen bist!«
»Ich will auch hineingehen! Das ist ein Zauber!«
Er stolperte hinunter.
Raskolnikow ging weiter.
»Hören Sie, mein Herr!« rief ihm das Mädchen nach.
»Was?«
Sie wurde verlegen.
»Es wird mir immer ein Vergnügen sein, lieber Herr, Ihnen Gesellschaft zu leisten; aber jetzt, wo Sie mir gegenüberstehen, bringe ich es nicht übers Herz. – Schenken Sie mir doch sechs Kopeken, hübscher Kavalier, zu einem Schlückchen!«
Raskolnikow zog aus der Tasche, soviel er gerade in die Hand bekam: es waren fünfzehn Kopeken.
»Ach, was für ein guter Herr!«
»Wie heißt du denn?«
»Fragen Sie nur nach Duklida.«
»Nein, das ist doch unerhört!« bemerkte eine aus der Gruppe und schüttelte über Duklidas Benehmen den Kopf. »Ich verstehe gar nicht, wie man nur so betteln kann! Da würde ich mich ja in Grund und Boden schämen…« Neugierig blickte Raskolnikow die Redende an; es war ein pockennarbiges Mädchen, ganz voll blauer Prügelflecke, mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach die tadelnden Worte ruhig und ernst.
›Wo habe ich‹, dachte Raskolnikow im Weitergehen, ›wo habe ich doch gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Tode spricht oder denkt? Daß, wenn ihm die Möglichkeit gewährt würde, irgendwo hoch oben auf einem Felsen zu leben, auf einer so schmalen Platte, daß gerade nur die beiden Füße Raum zum Stehen fänden, und ringsumher wären Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm, und wenn er so, auf dem schmalen Platze stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, eine Ewigkeit zubringen könnte: daß es ihm dann besser scheinen würde; so zu leben, als gleich zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ist gleichgültig; nur leben! … Und das ist wahr! 0 Gott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft!… Und ein Schuft ist, wer ihn deswegen Schuft nennt!‹ fügte er einen Augenblick darauf hinzu.
Er gelangte in eine andere Straße. ›Ah! Da ist ja der Kristallpalast! Von dem hat Rasumichin vorhin gesprochen. Aber was wollte ich eigentlich da? Ja, ich wollte lesen! … Sossimow sagte, er habe in den Zeitungen gelesen …‹
»Habt ihr hier Zeitungen?« fragte er beim Eintritt in ein sehr geräumiges und recht sauberes Restaurant, das aus mehreren, jetzt ziemlich leeren Zimmern bestand. Zwei oder drei Gäste tranken Tee, und in einem entfernteren Zimmer saß eine Gruppe von etwa vier Personen, die Champagner tranken. Es schien dem Eintretenden, daß sich Sametow unter ihnen befände; indessen konnte er ihn in dieser Entfernung nicht mit Sicherheit erkennen. ›Meinetwegen!‹ dachte er.
»Wünschen Sie Schnaps?« fragte der Kellner.
»Nein, bring mir Tee. Und bring mir ein paar Zeitungen, alte, so etwa von vor fünf Tagen; du bekommst ein Trinkgeld.«
»Sehr wohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Schnaps?«
Die alten Zeitungen und der Tee wurden gebracht. Raskolnikow setzte sich hin und fing an zu suchen: ›Isler – Isler – Azteken – Azteken – Isler – Bartola – Massimo – Azteken – Isler … Donnerwetter! Na, endlich die Lokalnachrichten: eine Frau von der Treppe gefallen – ein Kleinbürger infolge von Trunksucht bankerott geworden – Feuer auf den Peski – Feuer in der Peterburgskaja – nochmal Feuer in der Peterburgskaja – nochmal Feuer in der Peterburgskaja – Isler – Isler – Isler – Isler – Massimo … Ah, da ist es …‹
Endlich hatte er gefunden, was er suchte, und fing an zu lesen. Die Zeilen hüpften ihm vor den Augen; trotzdem las er den ganzen Bericht bis zu Ende und suchte dann gierig in den folgenden Nummern nach weiteren ergänzenden Mitteilungen. Die Hände zitterten ihm beim Umwenden der Zeitungsblätter vor krampfhafter Ungeduld. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn an seinen Tisch. Er sah auf – es war Sametow, derselbe Sametow von neulich und mit demselben äußeren Habitus, mit den Ringen, der Uhrkette, mit dem Nackenscheitel in dem schwarzen, gekräuselten, pomadisierten Haare, mit der eleganten Weste und dem etwas abgescheuerten Rocke und der nicht ganz reinen Wäsche. Er war sehr guter Laune; wenigstens lächelte er vergnügt und gutmütig. Sein bräunliches Gesicht war von dem getrunkenen Champagner etwas erhitzt.
»Ei, sieh da, Sie sind hier?« sagte er erstaunt und in einem Tone, als wäre er mit Raskolnikow schon wer weiß wie lange bekannt. »Und noch gestern, hat mir Rasumichin erzählt, daß Sie noch immer nicht wieder bei Besinnung wären. Das ist ja wunderbar! Ich bin nämlich bei Ihnen gewesen…«
Raskolnikow hatte es sich gleich gedacht, daß Sametow wohl zu ihm herantreten werde. Er legte die Zeitungen weg und wandte sich zu ihm. Auf seinen Lippen lag ein spöttisches Lächeln, und in diesem Lächeln gab sich ein neues Gefühl ungeduldiger Reizbarkeit zu erkennen.
»Das weiß ich, daß Sie da waren«, antwortete er, »ich habe es gehört. Sie haben meinen Strumpf gesucht… Wissen Sie wohl, Rasumichin ist von Ihnen ganz entzückt; er erzählt. Sie wären mit ihm bei Lawisa Iwanowna gewesen, der Dame, für die Sie sich damals so ins Zeug legten; Sie blinzelten noch dem Leutnant Schießpulver so eifrig zu; aber es dauerte lange, bis er begriff; erinnern Sie sich nicht? Und es war doch nicht schwer zu begreifen – eine so klare Sache,… nicht wahr?«
»Ja, überall muß der seine Hände im Spiel haben.«
»Der Leutnant Schießpulver?«
»Nein, Ihr Freund Rasumichin.«
»Aber was führen Sie für ein schönes Leben, Herr Sametow; zu den vergnüglichsten Lokalen haben Sie Zutritt, ohne eine Kopeke zu zahlen! Und wer hat Sie denn da eben mit Champagner traktiert?«
»Ach, wir haben da… ein Gläschen getrunken… Traktieren kann man das nicht nennen!«
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