Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
isbn:
»Wie sich das erklären läßt?« fiel Rasumichin ein. »Das könnte man gerade durch die fest eingewurzelte Untüchtigkeit erklären.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was antwortete denn in Moskau Ihr Dozent auf die Frage, warum er Staatsschuldscheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf die eine oder andre Art; daher wollte auch ich schnell reich werden.‹ Des Wortlautes entsinne ich mich nicht; aber der Sinn war: reich werden auf andrer Leute Kosten, recht schnell, ohne Arbeit! Wir haben uns gewöhnt, alles zum Leben Nötige einfach vorzufinden, mit fremder Hilfe zu gehen, ohne vorhergehende Mühe zu genießen. Na, und wenn dann ein kritischer Augenblick kommt, dann zeigt sich ein jeder in seinem wahren Charakter …«
»Ja, aber wo bleibt denn da die Moral? Und sozusagen die Prinzipien des Handelns?«
»Worüber erregen Sie sich denn so?« mischte sich, für alle unerwartet, Raskolnikow in das Gespräch. »Das entspricht doch vollständig Ihrer Theorie!«
»Inwiefern soll das meiner Theorie entsprechen?«
»Ziehen Sie aus den Grundsätzen, die Sie vorhin vortrugen, die sich daraus ergebenden Schlüsse, so kommen Sie zu dem Resultate, daß es gestattet ist, andre Menschen zu töten …«
»Aber ich bitte Sie!« rief Lushin.
»Nein, das ist denn doch nicht richtig!« warf auch Sossimow dazwischen.
Raskolnikow lag ganz blaß da; seine Oberlippe zuckte; er atmete mühsam.
»Es hat doch alles seine Grenzen«, fuhr Lushin hochmütig fort. »Eine nationalökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Morde, und wenn man nur annimmt …«
»Ist es wahr, daß Sie«, unterbrach ihn Raskolnikow wieder mit vor Wut bebender Stimme, der man es anmerkte, wie sehr es ihn freute, den andern kränken zu können, »ist es wahr, daß Sie in eben der Stunde, da Sie von Ihrer Braut das Jawort erhielten, ihr gesagt haben, Sie freuten sich ganz besonders darüber, daß sie bettelarm sei, weil es seine großen Vorzüge habe, eine ganz arme Frau zu nehmen, um dann nachher über sie herrschen zu können … und ihr vorhalten zu können, welche Wohltat sie Ihnen zu verdanken habe?«
»Verehrter Herr«, rief Lushin zornig und gereizt; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und völlig die Fassung verloren. »Verehrter Herr, … wie können Sie den Sinn meiner Worte so entstellen! Nehmen Sie es nicht übel, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen sind, oder richtiger: die Ihnen zugetragen wurden, auch nicht eine Spur der Wahrheit enthalten. Aber ich … ich kann mir denken, wer … mit einem Worte … dieser Pfeil … mit einem Worte, Ihre Frau Mutter … Sie kam mir überhaupt, bei all ihren vortrefflichen Eigenschaften, etwas schwärmerisch und romantisch angehaucht vor … Aber ich habe doch nicht im entferntesten geglaubt, daß sie die Sache in einer so phantastisch entstellten Weise auffassen und darstellen würde … Und schließlich … schließlich …«
»Wissen Sie was?« rief Raskolnikow, richtete sich auf dem Kissen auf und sah ihn mit durchdringendem, funkelndem Blicke an. »Wissen Sie was?«
»Nun, was denn also?«
Lushin hielt inne und wartete mit gekränkter, herausfordernder Miene. Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
»Wenn Sie sich noch einmal erdreisten, … auch nur ein Wort … über meine Mutter zu sagen, so werfe ich Sie kopfüber die Treppe hinunter!«
»Was hast du denn?« rief Rasumichin.
»Ah, so steht es also!« Lushin wurde blaß und biß sich auf die Lippe. »Hören Sie, mein Herr«, sagte er betont und langsam; er suchte sich mit aller Gewalt zu beherrschen, konnte aber kaum Luft bekommen. »Ich habe schon vorhin, gleich als ich hereingekommen war, Ihre feindliche Gesinnung gegen mich erkannt; aber ich blieb absichtlich hier, um noch mehr in Erfahrung zu bringen. Vieles könnte ich einem Kranken und Verwandten verzeihen, aber dieses … kann ich Ihnen … niemals …«
»Ich bin nicht krank!« rief Raskolnikow.
»Um so schlimmer …«
»Scheren Sie sich zum Teufel!«
Aber Lushin ging bereits von selbst hinaus, ohne den Satz zu Ende zu sprechen; er mußte sich dabei wieder zwischen dem Tisch und dem Stuhl hindurchdrängen. Rasumichin stand diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen, selbst ohne ein Kopfnicken für Sossimow, der ihm schon längst Zeichen gemacht hatte, daß er den Kranken in Ruhe lassen möchte, ging Lushin hinaus; als er gebückt durch die Tür schritt, hielt er vorsichtig seinen Hut an die Schulter. Man konnte glauben, daß es sogar der Krümmung seines Rückens anzusehen war, welch ein Gefühl furchtbarer Kränkung er mit sich davontrug.
»Aber wie kannst du bloß? Wie kannst du bloß?« sagte Rasumichin ganz verblüfft und schüttelte den Kopf.
»Laßt mich in Ruhe, laßt mich alle in Ruhe!« rief Raskolnikow in voller Wut. »Wollt ihr mich denn nicht endlich in Ruhe lassen, ihr Peiniger! Ich fürchte euch jetzt nicht! Niemand fürchte ich jetzt, niemand! Macht, daß ihr von mir wegkommt! Ich will allein sein, allein, allein, allein!«
»Wir wollen gehen!« sagte Sossimow, indem er Rasumichin winkte.
»Aber ich bitte dich! Wir können ihn doch nicht in diesem Zustande verlassen!«
»Wir wollen gehen!« sagte Sossimow noch einmal nachdrücklich und ging hinaus.
Rasumichin überlegte einen Augenblick und lief ihm dann schnell nach.
»Es hätte noch schlimmer werden können, wenn wir ihm nicht den Willen getan hätten«, sagte Sossimow, der bereits auf der Treppe war. »Man darf ihn nicht reizen …«
»Was ist nur mit ihm?«
»Könnte man ihm nur irgendeinen angenehmen Impuls geben; das wäre sehr wesentlich. Bei Kräften war er ja schon wieder … Weißt du, es steckt ihm etwas im Kopfe, was nicht weichen will und ihn bedrückt … Ich fürchte sehr, so ist es; ganz sicher!«
»Ja, vielleicht ist es dieser Herr Pjotr Petrowitsch! Aus dem Gespräche wurde ja klar, daß er Rodjas Schwester heiraten will und daß Rodja darüber unmittelbar vor seiner Krankheit einen Brief erhalten hat …«
»Ja. Daß dieser Mensch auch gerade jetzt herkommen mußte! Vielleicht hat der die ganze Geschichte verdorben. Hast du aber wohl bemerkt, daß er gegen alles gleichgültig ist und zu allem schweigt, mit Ausnahme einer einzigen Sache, die ihn in Harnisch bringt? Ich meine die Mordtat.«
»Ja, ja«, stimmte ihm Rasumichin bei. »Es ist mir sehr aufgefallen. Dieses Thema interessiert ihn, beängstigt ihn. Das kommt wohl daher, daß man ihn gerade an dem Tage, an dem die Krankheit zum Ausbruch kam, im Bureau des Revierinspektors durch ein Gespräch darüber erschreckt hat; er ist damals in Ohnmacht gefallen.«
»Erzähle mir das heute abend ausführlicher; ich werde dir dann auch etwas sagen. Er interessiert mich außerordentlich! In einer halben Stunde will ich noch einmal herankommen und nach ihm sehen … Fieber wird er übrigens nicht mehr haben.«
»Ich danke dir. Ich will unterdessen bei Paschenjka warten und ihn durch Nastasja beobachten lassen.«
Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, blickte Raskolnikow ungeduldig und mißmutig Nastasja an; aber diese zögerte noch fortzugehen.
»Willst СКАЧАТЬ