Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 119

СКАЧАТЬ ja ihre Notwendigkeit nicht – schlage den Schafen schlecht an. Er verstehe seine Tiere. Sie magern ab, weil sie niemand mehr gehören, weil sie keinen Eigentümer spüren, der sich um ihr Wohl und Wehe kümmert. Die zweite Begründung aber war weniger politisch und einleuchtender. Die besten Triften innerhalb der Verteidigungsgrenzen, die nicht nur die Schafe und Ziegen, sondern auch noch die Esel zu ernähren hätten, seien ganz und gar abgeweidet. Das schlechtgefütterte Vieh könne sich nur wenig zähes Fleisch und gar kein Fett aneignen. Mit der Milch sehe es nicht besser aus. Sie fließe immer magerer, immer gehaltloser. Von Butter und Käse sei keine Rede mehr. Kebussjan kam mit trübsinnigem Klageton zum Schluß, daß man andre Weiden werde finden müssen, um den Zustand der Schafe zu bessern. Gegen diese Absicht wandte sich Gabriel Bagradian mit aller Schärfe. Man lebe nicht in Frieden und Fröhlichkeit, sondern bestenfalls in der Arche Noah mitten in einer Sintflut des Blutes. An Freizügigkeit von Mensch und Vieh sei nicht zu denken. Türkische Kundschafter umlauern den Verteidigungsring von allen Seiten. Die Herden außerhalb dieses Ringes, womöglich auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh grasen zu lassen, bedeute ein Wagnis, für das niemand die Verantwortung übernehmen könne. Es müßten, zum Teufel, auch noch in den Lagergrenzen neue Weidegründe ausfindig gemacht werden. Man möge das Vieh auf die hohen Kuppen hinauftreiben. »Auf den Kuppen ist das Gras kurz und verbrannt«, mischte sich der Muchtar von Habibli in die Debatte, »das können nicht einmal Kamele fressen.« Bagradian ließ sich nicht beirren: »Besser wir haben mageres Fleisch als überhaupt keines!« Ter Haigasun stimmte der Warnung Bagradians zu und bat den Pastor, in seinem Bericht fortzufahren. Aram Tomasian kam auf die Brotentbehrung, auf die ungemischte Fleischkost und ihre Folgen zu sprechen. Aus hundert Gründen, nicht zuletzt um das Hinschwinden der Herden zu verhindern, sei es nötig, eiligst Abhilfe und Ersatz zu schaffen. An Beutezüge ins Tal könne nach der Neubesiedlung der Dörfer nicht mehr gedacht werden. Andrerseits werde ihm Bedros Altouni bestätigen, daß durch die Entbehrung gemischter Kost der Gesundheitszustand des Volkes schon gelitten habe. Man sehe immer häufiger fahle Gesichter und hinfällige Gestalten. Jeder hier habe ja auch an sich selbst in dieser Hinsicht unerfreuliche Erscheinungen beobachtet. Abwechslung in der Kost müsse auf jede Weise erzwungen werden. Und nun legte Aram Tomasian seinen Plan dar. Man habe bisher das Meer zu wenig in Betracht gezogen. Von gewissen Punkten der Steilseite aus sei die Klippenküste ganz leicht in einem halbstündigen Abstieg zu erreichen. Er selbst habe bei seinen Probegängen jüngst einen alten verfallenen Maultierpfad entdeckt, der sich ohne viel Mühe ausbauen lasse. Wozu besitze man berufsmäßige Straßenarbeiter unter den Männern des Volkes und den Deserteuren? Zwei Tage Arbeit, und eine bequeme Verbindung zwischen Lager und Meer sei geschaffen. Dann aber sollte eine Gruppe aus jungen Leuten, aus kräftigen Frauen und den größeren Knaben der Jugendkohorte gebildet werden, um unten in den Klippenmulden eine Salzbleiche anzulegen und eine kleine Fischerei in Gang zu bringen. Ein Floß, aus Baumstämmen zusammengebunden, und ein paar Ruderstangen genügten, sich an einer sanfteren Stelle ein paar hundert Meter hinauszuwagen. Noch heute möge man kundigen Weibern den Auftrag geben, Schleppnetze anzufertigen, so gut es gehe. Hanfstricke seien in der Stadtmulde genug vorhanden. Und ferner noch! Er, Aram Tomasian, erinnere sich aus seiner eigenen Jugendzeit, ein leidenschaftlicher Vogelsteller gewesen zu sein. Die Jungen von Yoghonoluk dürften ja diese Kunst inzwischen nicht verlernt haben. Also heraus mit Klappnetz und Vogelgabel! Anstatt herumzulungern und den Leuten zwischen die Beine zu fahren, sollen die jüngeren Knaben auf Vogelfang gehen. An sonstige Jagd sei ja leider nicht zu denken.

      Des Pastors Aram Vorschlag, Salzbleiche, Fischerei und Vogelfang betreffend, wurde mit Beifall aufgenommen und in allen Einzelheiten durchgesprochen. Der Führerrat erteilte ihm den Auftrag, die Erschließung dieser Hilfsquellen zu organisieren. Als nächster Redner berichtete Bedros Hekim über die Gesundheitslage. Von den einundvierzig Verwundeten der letzten Schlacht befänden sich Gott sei Dank bis auf vier Hochfiebernde alle außer Lebensgefahr. Achtundzwanzig von ihnen habe er in Familienpflege bereits entlassen können. Diese würden insgesamt und in kurzer Zeit in ihre Kampfeinteilung zurückkehren können. Mit weit größerer Besorgnis jedoch als der Zustand der Verwundeten erfüllte den Arzt die neue merkwürdige Krankheit, die der junge Deserteur aus Aleppo eingeschleppt hatte. Dieser selbst ringe seit gestern nacht mit dem Tode und dürfte zu dieser Stunde schon verschieden sein. Doch nicht genug damit, auch an andern Insassen des Lazaretts hätten sich inzwischen bedenkliche Zeichen der Ansteckung gezeigt, Erstickungsanfälle, hohes Fieber, Erbrechen. Es handle sich demnach um eine epidemische Krankheit, von der, wie sich Altouni erinnerte, die Aleppiner Zeitungen in den letzten Monaten mehrmals geschrieben hätten. Eine um sich greifende Epidemie aber bedeute für das enge Lager eine ebenso große Gefahr wie die Türken. Deshalb habe er schon heute in aller Frühe für die strengste Trennung der Ansteckungsverdächtigen von den übrigen Kranken gesorgt. Zwischen den beiden Kuppeln liege, wie jeder weiß, fernab von der Stadtmulde ein kleiner schattiger Buchenwald mit einem Wasserlauf. Diesen Wald, der vom Verkehr der Zehnerschaften und Lagerleute fast niemals berührt werde, habe er zum Infektionsspital bestimmt. Der Führerrat möge nun seinerseits aus den unbrauchbarsten Leuten des Lagers eine Wärtergruppe bilden, die mit dem übrigen Volke ebenfalls nicht in Berührung kommen dürfe. Bedros Hekim nannte Kework, den Tänzer mit der Sonnenblume, als ein Prachtbeispiel für diese Wärterschaft. Dann wandte er sich an Gabriel Bagradian:

      »Mein Freund! Ich bitte dich dringend, Juliette Hanum zu ersuchen, sie möge nicht mehr zur Krankenpflege kommen. Ich verliere in ihr eine sehr gütige Helferin. Aber ihre Gesundheit ist mir offen gesagt wertvoller als ihre Hilfe. Auch ohne die Ansteckungsgefahr bin ich um deine Frau besorgt, mein Sohn. Wir andern hier sind harte Leute und kaum eine Meile von unserer Heimat entfernt. Deine Frau aber hat sich, seitdem wir auf dem Damlajik leben, sehr verändert. Ganz sonderbare Antworten gibt sie manchmal. Nicht nur körperlich scheint sie zu leiden. Sie ist diesem Leben nicht gewachsen. Wie wäre das anders auch möglich!? Kümmere dich mehr um sie, das rat ich dir! Am besten, sie bleibt den ganzen Tag im Bett liegen und liest Romane, die sie weit weg von uns führen. Unser Krikor ist ja glücklicherweise der Mann, einer ganzen Stadt von Madames mit französischen Büchern über das Elend hinwegzuhelfen.«

      Bei Altounis Mahnung schrak Gabriel schuldbewußt zusammen. Es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er seit zwei Tagen kaum ein Wort mit Juliette gesprochen hatte.

      Lehrer Hapeth Schatakhian, der nun das Wort erhielt, führte lebhafte Klage über die Verwilderung der Jugend. Der Schulbetrieb könne nicht mehr aufrechterhalten werden. Seitdem Stephan Bagradian und Haik die Haubitzen erobert hätten, fühlten sich die Buben als vollgültige Krieger und begegneten den Erwachsenen mit Frechheit und Unabhängigkeitsdrang. Die Muchtars bestätigten die Klage des Lehrers. »Wo sind die Zeiten«, jammerte der von Bitias, »da sich die Jugend mit alten Männern nicht durch Worte, sondern nur durch unterwürfige Zeichen verständigen durfte?«

      Ter Haigasun aber, der jetzt dem Jugendproblem nicht die nötige Wichtigkeit beizumessen schien, stellte an Gabriel Bagradian unvermittelt die Frage:

      »Wie ist der wahre Stand unserer Verteidigung, Gabriel Bagradian? Wie lange werden wir uns im äußersten Falle gegen die Türken halten können?«

      »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, Ter Haigasun«, erklärte Gabriel, »die Verteidigung hängt immer vom Angriff ab.«

      Ter Haigasun schlug seinen scheuen und doch entschlossenen Priesterblick voll zu dem Gefragten auf:

      »Sagen Sie uns Ihre Meinung aufrichtig, so wie sie wirklich ist, Gabriel Bagradian!«

      »Ich habe keinen Grund, den Führerrat, was meine Meinung betrifft, schonend zu behandeln, Ter Haigasun. Ich bin fest davon überzeugt, da es mit uns verzweifelt steht ...«

      Nach kurzem Nachdenken begründete er diese Überzeugung in einigen Sätzen. Man habe bisher zwei schwere Angriffe blutig abgeschlagen. Gerade aber in der vernichtenden Kraft dieser Erfolge liege das Verhängnis. Ohne Zweifel sei die türkische Regierung bis zur Raserei erbittert. Wenn sich die Kunde dieses Mißerfolges im Reich verbreite, dann habe die militärische Autorität die schwerste Einbuße erlitten. Das ottomanische Militär dürfe diese furchtbare Belehrung СКАЧАТЬ