Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 122

СКАЧАТЬ bat ihn herein. Seitdem sie die junge Mutter und den Säugling betreute, mied sie der Ansteckung wegen den Lazarettschuppen. Das leidenschaftlich kühne Gesicht der alten Frau glühte vor mütterlicher Teilnahme. Sie war immer in Bewegung, als koste sie die vielen Handgriffe des Dienstes, die Kind und Wöchnerin erfordern, wie ein ganz persönliches Glück aus, dessen sie nicht genug bekommen könne. Trotz Antarams rastloser Mühe schien das Kind gar nicht gedeihen zu wollen. Das winzige Gesichtchen war noch immer bräunlich und verhutzelt wie knapp nach der Geburt, Die Augen standen ohne Blick weit offen. Das Bedenklichste aber war, das Kind schrie fast niemals. Howsannah sah sehr verfallen aus. Doch es waren nicht nur die Folgen der schweren Geburt, die sich auf ihrem Antlitz zeigten, sondern ein krankhafter Ausdruck feindseliger Verstocktheit dazu. Von ihren Zügen war alle Jugend verschwunden und hatte lauernder Schärfe Platz gemacht. Als Gabriel an ihr Bett trat, entblößte die Pastorin die Brust ihres Kindes und deutete vorwurfsvoll auf das violette Feuermal, das auf der Herzseite schon bis zur Größe eines halben Medjidjehstückes gewachsen war:

      »Immer größer wird es ...«, sagte sie in sonderbar feierlichem Ton wie die Prophetin einer himmlischen Strafe. Mairik Antaram aber schalt sie mit ungeduldiger Erbitterung:

      »Sei glücklich, Pastorin, und danke Gott, daß der Junge das Zeichen auf der Brust und nicht im Gesichte trägt. Was willst du denn?«

      Howsannah schloß böse die Augen, als sei sie es müde, ihr besseres Wissen immer wieder gegen leere Tröstungen behaupten zu müssen:

      »Und warum trinkt er so schlecht? Und warum weint er nicht?«

      Antaram beschäftigte sich damit, Windeln auf einem heißen Stein zu wärmen. Sie rief, ohne von ihrer Arbeit wegzuschauen:

      »Warte noch zwei Tage bis zur Taufe! Manches Kind fängt erst nach der Taufe so recht zu plärren an.«

      Howsannahs Gesicht krampfte sich abwehrend zusammen:

      »Wenn wir ihn nur bis zur Taufe bringen ...«

      Die Doktorsfrau wurde sehr zornig:

      »Du bist ein Quälgeist für dich und andre, Pastorin. Wer weiß denn hier auf dem Damlajik, was in zwei Tagen sein wird, Taufe oder Tod? Nicht einmal Bagradian Effendi weiß es, ob wir in zwei Tagen noch leben werden.«

      »Wenn wir aber leben«, lächelte Gabriel, »so wollen wir hier vor den Zelten zu Ehren des Täuflings und seiner Mutter eine kleine Feier veranstalten. Ich habe schon deswegen mit dem Pastor gesprochen. Nennen Sie die Leute, Frau Tomasian, die Sie dabeihaben möchten!«

      Howsannah Tomasian lag abweisend da:

      »Ich bin nicht von hier. Ich habe keine Bekannten ...«

      Iskuhi, die auf ihrem Bett saß, hatte den Gast die ganze Zeit über still angesehen. Und auch Gabriels Blick kehrte immer wieder zu ihr zurück. Er hatte den Eindruck, als sei Iskuhi noch viel mitgenommener und hilfsbedürftiger als die Wöchnerin, die zu seltsamer Feindseligkeit noch die Kraft aufbrachte und im übrigen die umhegte Wichtigkeit ihres Zustandes auskosten durfte. Die junge Schwägerin aber saß wie eine Gefangene in dem Zelt. Gabriels Blick umschmiegte sie:

      »Haben Sie Lust, Iskuhi Tomasian, mich ein Stück zu begleiten? Meine Frau ist nämlich verschwunden. Ich will sie suchen gehen.«

      Iskuhi sah Howsannah fragend an. Diese aber forderte das Mädchen mit weinerlicher Stimme und gekränkter Übertriebenheit auf, Bagradian Effendi zu begleiten.

      »Aber natürlich, Iskuhi, geh nur! Ich brauche dich nicht. Beim Umlegen kannst du ja doch nicht helfen. Es wird dir wohltun.«

      Iskuhi zögerte, weil sie die Heimtücke in Howsannahs Worten spürte. Da aber legte sich Mairik Antaram ins Mittel:

      »Schau, daß du weiterkommst, Sirelis, mein Liebchen! Und laß dich ja vor dem Abend nicht blicken! Das ist hier kein Leben für dich.«

      Vor dem Zelte erkundigte sich Gabriel Bagradian verwundert:

      »Was ist denn mit Ihrer Schwägerin geschehen, Iskuhi?«

      Sie blieb einen Augenblick stehen und sah an ihm vorbei:

      »Das Kind ist sehr elend. Howsannah fürchtet, daß es sterben wird.«

      Dann aber, im Weitergehen, wandte sie ihm ihr Gesicht zu:

      »Vielleicht ist es etwas andres ... Vielleicht kommt ihr eigentlicher Charakter jetzt nach der Geburt heraus ...«

      »Und früher haben Sie von diesem Charakter gar nichts bemerkt?«

      Sie dachte an die Wohnung im Waisenhaus von Zeitun und an die kleinen Zänkereien, die es dort gegeben hatte. Den verstockten und widerstrebenden Grundzug in Howsannahs Wesen hatte sie immer verspürt. Wozu aber von Howsannah sprechen? Sie überging seine Frage mit einer flüchtigen Bemerkung: »Hie und da schon ...«

      Gabriel und Iskuhi nahmen die Richtung zur Stadtmulde, obgleich wenig Aussicht bestand, Julietten gerade dort anzutreffen. Sie schritten durch die engen Laubhüttengassen. Die Menschen saßen vor den Eingängen. Die Luft hier oben war angenehmer und kühler als jemals im Talgrund. Das Meer schickte heute den Hauch seiner langen Atemzüge mild herüber. Alles arbeitete. Die Frauen besserten Wäsche und Gewänder aus. Die älteren Männer der Reserve übten ihr Handwerk, besohlten Schuhe, hobelten Bretter, bearbeiteten Lamm- und Ziegenfelle. Nurhan Elleons Schmiede, Sattlerei und Patronenfabrik stand in starkem Betrieb. Wegen des hochaufschlagenden Feuers außerhalb der Lagerortschaft gelegen, wurde sie heute von Nurhan persönlich mitsamt seinen zwanzig Gesellen in hämmerndem, zischendem Gang gehalten. Der Bedarf an Nägeln und Stiften war allenthalben groß. Zerbrochenes Werkzeug und Grabgerät, hauptsächlich aber beschädigte Waffen mußten rasch instand gesetzt werden. Wie oft an solchen ruhigen Tagen erweckte der friedliche Arbeitslärm den Wahn, als herrsche auf dem Damlajik die einfache Ordnung von Kolonisten und keine Todesbedrängnis. Die Unbewußtheit der Minute, diese kindliche Kraft des Menschen, schien Gestern und Morgen überwunden zu haben. Die Gesichter waren zwar von Mühsal, schlechter Kost und Schlafmangel eingesunken, doch sie lächelten, als sie Bagradian und Iskuhi den Willkomm boten.

      Die beiden verließen das Lager. Nur Einsilbigkeiten sprachen sie. Gleichgültige Fragen, gleichgültige Antworten. Es war so, als lege jeder auf die Waagschale des andern immer nur ein winziges Gewichtchen, ein Granatkörnchen Seele gleichsam, damit das wunderbare Gleichgewicht nicht ins Schwanken komme. Sie gingen an den aufsteigenden Gipfelkuppen westlich entlang. Hier war alles kahl. Die milde Landschaft der Hochfläche zog sich zurück. Eine Leere öffnete sich, ohne Vogelstimmen, nur von ein wenig Wind überlaufen, damit der Mann und das Mädchen einander vernehmlicher würden. Gabriel sah Iskuhi nicht an. Es war so schön, sie unsichtbar neben sich zu fühlen. Nur wenn eine geröllige Stelle kam, beobachtete er entzückt das Zögern ihrer Füße, die reizend verlegen zu werden schienen. Dann hörte jedes Gespräch zwischen ihnen auf. Was wäre auch zu sagen gewesen? – Und es geschah, daß Gabriel die gebrechliche Gestalt neben sich immer schwerer werden spürte. Nein, nicht des Mädchens Körper, aber was? Ihm war, als gehe nicht nur die Iskuhi dieses Tages neben ihm, halb sichtbar, halb unsichtbar, sondern Iskuhi mit ihrer ewigen Herkunft und ihrem ewigen Hingang. Nicht ein blutjunges und hübsches Ding, sondern eine herrlich verkörperte Seele in ihrer zeitlosen Gesamtheit von Gott zu Gott. Wer aber vermöchte den allerseltensten, allerzartesten Augenblick auszusprechen, wenn ein Mensch gewürdigt wird, durch die flüchtige Lockung des Geschlechtes hindurch ein andres Wesen in seiner gottentströmten Einmaligkeit und Dauer zu berühren, wenn er die ganze Geschichte dieser Schwesterseele vom Anfang bis zum Ende der Welt während eines Atemzuges jäh in sich aufnimmt. Gabriel ergriff Iskuhis rechte Hand. СКАЧАТЬ