Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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СКАЧАТЬ ahnte er, warum sein scharfer Todfeind und Stellvertreter, der Jüsbaschi, in diesem Zeitpunkt gerade Urlaub genommen hatte. Indem er ihm diesen Urlaub gewährte, war er dem Stellvertreter auf den Leim gegangen. Nun würde der Major tatsächlich in Bälde seine Stelle vertreten. Es begann damit, daß der Kaimakam den Volkszorn gegen den Bimbaschi schlau zu entfesseln wußte. In Antiochia gab es nur ein einziges Lazarett, das der Zivilbehörde unterstand. Die kranken Soldaten verblieben bei leichteren Fällen in der Kaserne. War aber ärztliche Behandlung und Pflege erforderlich, so mußte das Militärkommando beim Kaimakamlik um Spitalaufnahme der Schwererkrankten bittlich werden. Diese bürokratisch vertrackte Umständlichkeit machte sich der Kaimakam heimtückisch zunutze. Wenn der Oberst auf jeden Fall erledigt war, so hätte sich die Sache mit Berichten und Untersuchungen doch noch viele Wochen lang hinziehen können, ehe seine Absetzung erfolgte. Man wäre keinen Schritt weitergekommen. Der Kaimakam aber brauchte für seine Politik in der Kasah zuverlässige Ittihadleute und keine trägen Knasterbärte aus Abdul Hamids Zeiten. Der Major und er hatten die Ereignisse ziemlich genau vorausgesehen und ihre Partie miteinander abgekartet. Wenige Stunden, bevor der Bimbaschi als gebeugter Herold seiner eigenen Niederlage nach Antakje zurückkehrte, trafen in tiefer Nacht die langen Karrenzüge mit den Toten und Verwundeten des Steinschlages und des Kampfes ein. In Hükümet brannte kein Licht, obwohl man dort alles schon wußte. Als die Verwundeten ans Tor des Krankenhauses gelangten, verweigerte ihnen der Verwalter unerbittlich den Einlaß. Ohne den Revers des Kaimakams dürfe auf ausdrücklichen Befehl niemand aufgenommen werden. Da half kein Zetern und Fluchen. Der Arzt legte unter freiem Nachthimmel bei Mond- und Petroleumbeleuchtung die notwendigsten Verbände an. Auch er hatte weder den Platz noch auch die Erlaubnis, den gewaltigen Zuwachs von zweihundert Mann in seiner engen elenden Spitalsbaracke unterzubringen. Verzweifelt entsandte er einen seiner Gehilfen zum Kaimakam, um Weisungen einzuholen. Nach endloser Zeit kam der Bote unverrichteterdinge zurück. Der Kaimakam schlafe so abgründig tief, daß es nicht gelungen sei, ihn zu wecken. Daraufhin entschloß man sich, die stöhnenden und weinenden Verwundeten in die Kaserne zu führen, damit sie wenigstens ein Dach über dem Kopfe hätten. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und der Tag rasch fortgeschritten. Der Eindruck, den die blutigen Karren bei der Bevölkerung von Antiochia hervorriefen, läßt sich kaum schildern. Als um dieselbe Stunde der vom Schicksal so arg gerupfte Bimbaschi mit seinem Stab über die Orontesbrücke in die Stadt einritt, wurde er mit Steinen empfangen und konnte sich nur auf unrühmlichen Umwegen in seine Kanzlei retten. Jetzt erst, da das Gedränge des Markttages anhob, sandte der beneidenswerte Morgenschläfer von Kaimakam den notwendigen Erlaubnisschein und ließ die langen Kolonnen der Unglücklichen in das Hospital überführen, jedoch mit dem nachdrücklichen Geheiß, der Weg müsse über den großen Bazar genommen werden. Der neuerliche Anblick der gelben Leidensgesichter und blutbesudelten Verbände erweckte einen stattlichen Aufruhr. Die empörte Menge zog vor die Kaserne und schlug dem armen Bimbaschi die Fensterscheiben ein, was hierzulande die Vernichtung einer Kostbarkeit bedeutete. Doch nicht genug damit! Die Reste der bewaffneten Macht waren so niedergedonnert und kleinlaut, daß sie vor dem Pöbel die Kasernentore ängstlich verriegelten wie erschrockene Spießbürger. In jeder Menschenmenge steckt ein leichtentzündlicher Urhaß gegen die Träger der Staatsordnung. Der Pöbel empfand die Totenstille hinter den Kasernenmauern als seinen eigenen Triumph und eröffnete ein neues Bombardement. Die Offiziere flehten den Bimbaschi an, er möge ihnen den Befehl geben, den Platz durch die Wachmannschaft mit gefälltem Bajonett säubern zu dürfen. Der alte Mann lag aber auf einem Diwan und hörte auf keinen Rat. Jammernd entrang es sich immer wieder seinen Lippen: »Ich bin nicht schuld. Ich bin nicht schuld.« Durch die Strapazen zu Tode erschöpft, weinte er, wenn er nicht schlief, und schlief, wenn er nicht weinte. Das militärische Platzkommando mußte zu allem andern mithin noch die Schmach erleben, daß es durch die bürgerliche Macht, das heißt durch Polizei und Saptiehs, von dem tobenden Pöbel befreit wurde.

      Während dieser erfreulichen Vorkommnisse begab sich der Kaimakam mit dem wohlmanikürten Müdir aus Salonik auf das Telegrafenamt der Stadt. Beide Herren entwarfen mit bewundernswertem politischem Feinsinn eine Depesche an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo. Dieser überlebensgroße Drahtbericht umfaßte zehn dichtbekritzelte Formulare oder elfhundertfünfzig Worte. Er war winkelzügig wie der Schriftsatz eines kleinen, aber ehrgeizbesessenen Rechtsanwalts und zungenfertig wie der Leitartikel einer radikalen Zeitung. Eingangs wurde die mißlungene Liquidation in den wirksamsten Farben geschildert, die schweren, doch unnötigen Verluste zahlenmäßig angeführt und die Erbeutung der ungesicherten Geschütze durch die Aufständischen als jene soldatische Ungeheuerlichkeit gebrandmarkt, die sie tatsächlich war. Dann verließ der Kaimakam diesen traurigen Gegenstand, indem er mit Resignation feststellte, daß jede Einflußnahme seinerseits auf die militärischen Stellen stets falsch gedeutet werde. Dagegen aber müsse er mit höchstem Nachdruck auf die kochende Volksseele hinweisen, die zur Stunde die fristlose Abberufung des kommandierenden Bimbaschi immer wütender fordere, und dies sogar mit den Mitteln des Straßenaufruhrs. Die vorhandene Polizei und Gendarmerie reiche aber bei weitem nicht aus, um eines Straßenaufruhrs Herr zu werden. Man müsse deshalb unverzüglich nachgeben und Seine Exzellenz möge die Abberufung und kriegsgerichtliche Bestrafung des hiesigen Kommandanten bei der zuständigen Militärbehörde erwirken. Der Kaimakam folgerte aus diesen Ereignissen weiter, daß an allem »die doppelten Kompetenzen« schuld seien, indem die syrischen Wilajets sowohl den politischen Statthaltern als auch dem Generalkommando der Vierten Armee unterstünden. Solange dieses zwiespältige Verhältnis herrsche, könne er weder die Ruhe in seiner Kasah noch auch die wunschgemäße Abwicklung der Armenierdeportation gewährleisten. Er setzte staatsjuristisch lichtvoll auseinander, daß die Austreibung der armenischen Millet ein Akt der inneren Verwaltung sei, bei dem auch die höchsten militärischen Stellen keine selbständige Rolle innehätten. Die Leistung des Militärs sei in diesem Fall durch den Begriff der »Assistenz« vollkommen umschrieben. Die Verwendung der Truppe bei der Assistenz aber hänge nach dem Wortlaut des Gesetzes einzig und allein von den Entschlüssen der zivilen Behörde ab. Daher sei die gegenwärtige Praxis ungesetzlich, da das Generalkommando nach eigener Willkür vorgehe, die Assistenz meist verweigere, gegen die Provinzregierung gehässig arbeite und sogar die Gendarmerie – einen Teil der bürgerlichen Macht also – für ihre eigenen Zwecke verwende. In Ansehung dieser gefährlichen Tatsache werde die armenische Bevölkerung zum Widerstande aufgereizt, der, sofern er sich ausbreite, unabsehbare Folgen für das ganze Reich nach sich ziehen könne. Der Kaimakam schloß diese ungewöhnliche Staatsdepesche beinahe mit einer Drohung: Er könne die Verantwortung für die Liquidation des bewaffneten armenischen Lagers auf dem Musa Dagh nur unter der Bedingung übernehmen, daß die gesamte Macht in seiner Hand vereinigt werde. Zu diesem Behufe müsse ihm militärische Assistenz in solcher Stärke und Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden, daß eine durchgreifende und restlose Säuberung des Berges möglich sei. Es gehe auch nicht an, daß diese Aktion von einem fremden, mit den Verhältnissen unvertrauten Offizier durchgeführt werde, sondern er bitte dringend um die Zuteilung des bisher stellvertretenden Majors als Platzkommandanten von Antakje, der aber in der armenischen Unternehmung ihm völlig unterstellt bleiben müsse. Andernfalls jedoch, sollten diese billigen Vorschläge nicht annehmbar sein, wage er, der Kaimakam, es gehorsamst anzuregen, daß man die obenberichtete Schmach ohne weitere Gegenmaßnahmen hinnehme und die Insurgenten auf dem Musa Dagh ihrem Schicksal überlasse.

      Der Rapport des Kaimakams bedeutete in politischer und psychologischer Beziehung ein Meisterstück. Ging auch nur ein Teil seiner Wünsche in Erfüllung, so war er der unabhängigste Landrat in Syrien. Ein gut gedrilltes Beamtenherz älterer Artung wäre vor dem manchmal anmaßenden Ton der Riesendepesche zurückgescheut. Doch gerade dieser schneidig durchgreifende Ton war genau auf das Ohr der jungtürkischen Machthaber von heute abgestimmt. Sie beteten den Westen an und hatten daher abergläubische Verehrung für Worte wie »Initiative« und »Energie«, mochten sich diese auch aufbegehrend äußern.

      Gleichzeitig klitterte der vernichtete Bimbaschi, der seine rosigen Wangen wohl für immer verloren hatte, eine lange Depesche an seinen vorgesetzten Etappengeneral zusammen. Sie erging sich in weitschweifigen Anklagen gegen den Kaimakam, der ihn zu dem mißglückten Unternehmen gezwungen habe, ohne ihm Zeit zur hinreichenden Vorbereitung zu lassen. Der Ton des Bimbaschi war wehleidig, feierlich und kleinlaut, demnach ganz und gar verfehlt. Der Unglückliche wurde noch innerhalb der nächsten СКАЧАТЬ