Auch heute nach der Beratung traf Gabriel seine Frau weder im Zelte noch auf ihrem Besuchsplatz unter den Myrtenbüschen an. Hier hatten sich auch die Lehrer Oskanian und Schatakhian wie so oft in letzter Zeit vergeblich eingefunden, um Madame Bagradian wieder einmal ihre Aufwartung zu machen. Insbesondere Hrand Oskanian war über die vielen fruchtlosen Versuche, sich Julietten als den Löwen der Südbastion zu präsentieren, höchst ungehalten. Knirschend mußte er sich eingestehen, daß die Gegenwart einer eleganten Modepuppe wie Monsieur Gonzague den echten pulvergeschwärzten Manneswert aussteche. So mißtrauischer Natur aber der Schweiger auch war, seine Gedanken verstiegen sich nicht zu einem unreinen Verdacht. Madame Bagradian stand zu Sternenhoch über ihm, als daß sich eine unpassende Vorstellung in sein Hirn gewagt hätte. In dieser Beziehung dachte der Unausstehliche wirklich ehrfurchtskeusch wie ein Aschugh, ein Minnesänger. Als Gabriel Bagradian die Gesichter der Lehrer erblickte, machte er schnell kehrt und verließ den Ort. Unentschlossen schlenderte er vom Dreizeltplatz in die Richtung der »Riviera«. Er überlegte, wo Juliette sich zu dieser Stunde wohl aufhalten möge. Schon wollte er sich der Stadtmulde zuwenden, als ihm Stephan über den Weg lief. Der Junge war wie immer von der ganzen Haik-Bande umgeben. Der finstere Haik selbst lief einige Schritte voraus, als wolle er Abstand, Führertum oder nur seine überlegene Selbständigkeit kundtun. Der arme Hagop aber hielt sich mit erzürnter Behendigkeit dicht an Stephans Seite, während die anderen regellos durcheinanderschwärmten und lärmten. Sato bildete in gewohnter Weise die lauernde Nachhut. Die Knaben achteten des obersten Befehlshabers gar nicht und wollten ohne Gruß, ohne Ehrenbezeigung an ihm vorüberstürzen. Da rief Gabriel seinen Sohn scharf an. Der Eroberer der Haubitzen schälte sich aus dem erstarrten Rudel und trabte in jener gravitätischen und affenhaften Haltung heran, die er von den Kameraden schon übernommen hatte. Seine zerrauften Haare hingen in die Stirn. Das Gesicht war rot und feucht. Die Augen schienen von einem Starhäutchen trunkener Besessenheit getrübt zu sein. Auch sein Kittel wies bereits eigenwüchsige Risse und Flecke auf. Gabriel Bagradian erkundigte sich mit mißgelaunter Strenge:
»Nun sag mir, was treibst du eigentlich da ...?«
Stephan gluckste und zeigte unentschieden in mehrere Richtungen:
»Wir laufen ... wir spielen ... wir sind dienstfrei jetzt ...«
»Spielen? So große Kerle spielen? Was spielt ihr?«
»Nichts ... Nur so ... Papa ...«
Bei diesen abgerissenen Worten schaute Stephan seinen Vater merkwürdig von unten an, als frage er, warum willst du meine schwererrungene Stellung in dieser Gesellschaft vernichten, Papa? Wenn du mich jetzt klein machst, werde ich für alle zum Gelächter werden. Gabriel aber verstand diesen Blick nicht:
»Du siehst ja nicht wie ein Mensch aus, Stephan. Wagst du es wirklich, dich Mama so zu zeigen?«
Der Junge antwortete nicht und sah gequält zu Boden. Es war noch gut, daß der Vater französisch zu ihm gesprochen hatte. Der Befehl aber erfolgte leider in armenischer Sprache, so daß ihn das Rudel hören konnte:
»Geh jetzt sofort ins Zelt, wasch dich, kleide dich um! Am Abend meldest du dich in einem menschlichen Zustand bei mir!«
Nachdem Gabriel Bagradian dann verärgert noch ein Stück in südlicher Richtung gegangen war, blieb er plötzlich stehn. Ob der Bursche seinem Befehl wohl gehorcht hatte? Er war des Gegenteils beinahe gewiß. Und wirklich, als er eine Weile später ins Scheichzelt trat, fand sich kein Stephan drin. Gabriel überlegte, welche Strafe er über den Jungen verhängen müßte; es handelte sich hier ja nicht nur um den bloßen Ungehorsam gegen den Vater, sondern um Insubordination gegen den höchsten Führer. Mit den Strafen auf dem Damlajik war's jedoch ein schwieriges Ding. Bagradian ging zu seinem Koffer, der in diesem Zelt stand, und zog irgendein Buch hervor. Doktor Altounis Rat für Juliette, eine Geschichte zu lesen, die von dieser schauderhaften Wirklichkeit weit wegführt, hatte ihn selbst begehrlich danach gemacht. Vielleicht durfte er ein paar müßige Stunden lang die unerbittliche Welt und das unerbittliche Ich vergessen. Für heute war nichts mehr zu befürchten. Der Tag schritt vor. Die Beobachter sämtlicher Stände meldeten allstündlich: Nichts Neues im Tal. Eine Kundschafterpatrouille, die sich fast bis nach Yoghonoluk vorgewagt hatte, war heimgekehrt und berichtete, daß sie nirgends auch nur einen Saptieh zu Gesicht bekommen habe. Gabriel warf einen Blick auf den Titel des gelben Romans. Es war ein Buch von Charles Louis Philippe, das er gern hatte, obgleich er sich nur ganz undeutlich daran erinnerte. Gewiß aber gab es darin kleine Cafés mit Tischen und Stühlen auf der Straße. Breite Sonne lag auf staubigen Vorstadtboulevards. Ein winziger Hof mit einer Akazie und einem moosgrünen Kanalgitter in der Mitte. Und dieser elende Hof verrät einen frühlingshafteren Frühling als die gesamte Rhododendron-, Myrten-, Anemonen- und Narzissenpracht des Musa Dagh im März. Alte finstere Holztreppen, ausgetreten wie Muscheln. Hinab klappert ein unsichtbarer Frauenschritt ...
Als Gabriel das Buch öffnete, fiel ein viereckiges Briefchen heraus. Der kleine Stephan hatte es vor einigen Jahren geschrieben. Damals – es war ebenfalls im August – nahm Gabriel gerade an der großen Konferenz zwischen Jungtürken und Daschnakzagan in Paris teil, während sich Juliette mit dem Kinde zur Erholung in Montreux aufhielt. Auf jenem berühmten verbrüderungsfreudigen Kongreß wurde das einige Vorgehen der freiheitlichen Jugend beider Völker zur Erneuerung des Vaterlandes beschlossen. Die Folge dieses Treueschwures war es bekanntlich, daß sich Bagradian nebst einigen andern Idealisten in die Reserveoffiziers-Akademie einschreiben ließ, als die Kriegswolken sich über der Türkei zusammenzogen. Stephans Briefchen, das seit jenen Augusttagen unberührt in dem Pariser Roman von Charles Louis Philippe lag, wußte noch nichts von der ungeheuerlichen Zukunft. Es war mit der starren Kleinkinderschrift französischer Abc-Schützen in friedlicher Mühsamkeit geschrieben:
Mein lieber Papa! Wie geht es Dir? Wirst Du noch lange in Paris bleiben? Wann kommst Du zu uns? Mama und mir ist sehr bange nach Dir. Hier ist es sehr schön. Es grüßt und küßt Dich Dein dankbarer Sohn
Stephan
Gabriel saß auf dem Bett, in dem Gonzague Maris zu schlafen pflegte, und starrte auf die zittrigen Züge der Kinderschrift. Es war unfaßbar, daß jenes hübschgekleidete Kind, das in einem hellen Hotelzimmer auf Juliettens noch immer duftendem Leinenpapier die wohlerzogenen Zeilen gekritzelt hatte, mit dem herangewachsenen Wald- und Wüstenmenschen von vorhin eins sein sollte. Gabriel Bagradian, der jetzt an Stephans unruhige Tieraugen und an das kehlige Kauderwelsch des Bubenrudels dachte, ahnte gar nicht, daß mit ihm selbst eine ähnliche Verwandlung vor sich gegangen war. Sein Bewußtsein erfüllten jetzt die hundert aufsprießenden Kleinigkeiten jenes fernen Augusttages, die der Kinderbrief erweckt hatte. Und kein Blutgreuel, kein Martertod schien ihm herzzerreißender als dieses kleine Welkblatt eines Alltags, dem nichts mehr etwas anhaben konnte.
Nach dem Versuch, die ersten fünf Zeilen des Romans zu lesen, schloß Gabriel den Band. Er glaubte, daß er in diesem Leben seinen Geist kaum mehr auf ein Buch werde richten können. Ebensowenig vermöchten die schweren Hände eines Eisendrehers eine feine Schnitzerei zu verfertigen. Seufzend erhob er sich von Gonzagues Bett und strich die Decke zurecht. Da bemerkte er, daß Maris auf dem Fußende des Lagers seine frischgewaschene Wäsche peinlich genau bereitgelegt hatte. Nähzeug, Schere und Stopfwolle lagen daneben, denn der Grieche besserte seine schadhaften Hemden und Strümpfe selbst aus. Gabriel wußte nicht, warum ihn der Anblick dieser Wäsche an Abreise gemahnte. Er ging zu seinem Koffer und warf den Roman hinein. Stephans Kinderbrief aber steckte er in seine Tasche. Als er das Scheichzelt verließ, fiel ihm der Bahnhof von Montreux ein. Juliette und der kleine Stephan erwarteten ihn. Juliette hatte damals einen roten Sonnenschirm getragen.
Gabriel СКАЧАТЬ