»Exzellenz haben wichtige Post erhalten ...«
»Lassen Sie sich nicht stören, Oberst«, meinte Dschemal, »was hier wichtig ist, das hängt nicht vom Kriegsminister ab, sondern von mir allein.«
Und er nahm mit seiner roten Hand Envers Depesche, zerriß sie in kleine Fetzen und streute sie aus dem Fenster, das zur Davidburg hinübersah. In der Empfindlichkeit dieses türkischen Gewalthabers hatte Gabriel Bagradian einen unfreiwilligen Bundesgenossen bekommen. Denn Dschemal Pascha gab weder eine Antwort, noch auch schickte er einen Mann, ein Maschinengewehr oder ein Geschütz nach Antakje, um den Musa Dagh auszuräuchern.
Die Untätigkeit Dschemal Paschas rettete die Bergarmenier vor einem raschen Untergang, ohne sie von der langsameren Todesumschnürung befreien zu können. Wenn auch der Diktator Syriens und Palästinas selbst nicht eingriff, so gab es untergeordnete Kommandostellen genug, die selbständige Entschlüsse treffen konnten. Der scharfe Major, des unseligen Bimbaschi von Antakje Nachfolger, hatte in Aleppo von dem Etappengeneral die Zusendung von mehreren Kompanien der dortigen Garnison erwirkt. Ebenso stellte der Wali in einem Schreiben dem Kaimakam den Abmarsch einer großen Saptiehtruppe in Aussicht. Man sieht also, daß der Kaimakam mit seinem Schritt in Aleppo Erfolg gehabt hatte. Und Erfolg stachelte den Ehrgeiz auf.
Gabriel Bagradian hatte auf seiner Beobachtungskuppe so oft das Gefühl gehabt, der Damlajik sei der tote Punkt in einem unendlichen Drehsystem, der absolute Stillstand innerhalb einer unsichtbaren, aber wilden Kreisbewegung der Todfeindschaft. Heute aber, da die Ochsenkarren, Packesel, Menschenhaufen von allen Seiten in das Tal der Bergdörfer strömten, war die Bewegung um den toten Punkt höchst sichtbar geworden. Was bedeutete diese Überflutung? Der Kaimakam, der die Stunde gekommen sah, sich durch eine vorbildliche politische Tat in die erste Reihe der Partei zu stellen, hatte einen neuen starken Faden in das Todesgeflecht des armenischen Schicksals gewirkt. Es handelte sich hierbei um die arabische Nationalbewegung, die seit einiger Zeit den syrischen Behörden viel zu schaffen machte. Weitverbreitete Geheimbünde, wie El Ahd, »Der Schwur« und »Die arabischen Brüder« betrieben eine feurig wirksame Propaganda gegen Stambul, mit dem Ziel, alle arabischen Stämme dereinst zu einem selbständigen und unabhängigen Staat zu vereinen. Hier wie überall in der Welt war der herrschende Nationalismus am Werke, um ideenerfüllte, ja religiöse Reichsgebilde in ihre armseligen biologischen Bestandteile aufzulösen. Das Kalifat ist eine Gottesidee, das Türken-, Kurden-, Armenier-, Arabertum aber nichts als eine irdische Tatsache. Die Paschas der alten Zeit wußten genau, daß der Gedanke der übergeordneten geistigen Einheit, der Gedanke des Kalifats, erhabener sei als der besessene Fortschrittswahn einiger Streber. In der verlästerten Trägheit des alten Reiches, in dem Geschehenlassen, in der verschlafenen Käuflichkeit lag eine behutsam weise und entsagende Staatsräson, die ein kurzsichtiger Westler, dem es um schnelle Wirkung ging, gar nicht begreifen konnte. Die alten Paschas wußten mit feinstem Gefühl, daß sich ein edler, aber verfallener Palast nicht allzu viele Verbesserungen gefallen lasse. Den Jungtürken aber gelang es, das Werk von Jahrhunderten in einem Atemzuge zu zerstören. Sie taten das, was gerade sie als Beherrscher eines Völkerstaates niemals hätten tun dürfen! Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker. Doch nicht mit irdischen Toren sei gerechnet. Wie trüb ist das Auge, das hinter dem Drama den Autor nicht ahnen darf! Die Menschen wollen, was sie müssen. Die großen übernatürlichen Reichsbindungen sind zerrissen. Dies bedeutet nur, daß Gott wieder einmal die Schachpartie, die er mit sich selbst spielt, zusammengeworfen hat, um die Figuren neu aufzustellen.
Der arabische Nationalismus war jedenfalls im Vormarsch. Vom Süden her durchdrang er das türkische Reich bis an die Linie Mossul, Mersina, Adana. In den syrischen Vilajets mußte man mit ihm gewaltig rechnen, denn schon verbreitete sich im Rücken und in der Flanke der Vierten Armee jene scheelsüchtige Aufsässigkeit, die für eine operierende Heeresmacht die höchsten Gefahren in sich schließt. Der Krawall gegen den armen Bimbaschi von Antakje stand bereits heimlich im Zusammenhang mit dieser Stimmung. Der Kaimakam hatte nun den guten Einfall, die immer unbotmäßigere arabische Bevölkerung seines Bezirkes auf Kosten der Armenier für sich zu gewinnen. Zugleich auch hoffte er, durch Neuentflammung des islamischen Fanatismus an sein Ziel zu kommen. Das armenische Eigentum war kraft des Verschickungsgesetzes samt und sonders dem Staate verfallen; so stand es wenigstens auf dem Papier. In Wirklichkeit aber blieb es dem Ermessen der Provinzbehörden überlassen, damit zu machen, was sie wollten. Der Kaimakam von Antakje schickte schon am ersten Tage nach der Niederlage der Truppen seine Beamten in alle Kreise mit starker arabischer Bevölkerung, die nicht allzu fernab vom Musa Dagh lagen. Dort ließ er verkünden, daß der fruchtbarste Landstrich Syriens zwischen Suedja und dem Ras el Chansir mit Wein- und Fruchtgärten, mit Raupen- und Bienenzucht, mit Wasser- und Holzreichtum, mit Häusern und Höfen an alle diejenigen unentgeltlich verteilt werden solle, welche sich am übernächsten Tage rechtzeitig in dem armenischen Tale einstellen würden. Die Müdirs deuteten geschickt an, daß man dem fleißigen arabischen Landwirt den Vorzug vor dem Türken geben werde.
Dies war der Grund der überraschenden Völkerwanderung. Der Kaimakam traf höchstpersönlich ein und blieb bis auf weiteres in Yoghonoluk, um die Aufteilung zu überwachen und sich bei den arabischen Notabeln einzuschmeicheln. Er bezog die Villa Bagradian, nachdem man den Mohadschir und seine Sippe hinausgeworfen hatte. Nach achtundvierzig Stunden waren die Dörfer ebenso dicht bevölkert wie früher. Reich gewordene Araber und Türken verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht. Schon am ersten Abend fand ein Gottesdienst statt. Die Mollahs dankten Gott für den neuen herrlichen Besitz, den freilich ein Schatten trübe, das freche Leben der unreinen Christenschweine dort oben auf dem Berg. Es sei die Pflicht jedes Gläubigen, sie zu vertilgen. Dann erst würde man sich des üppigen Gutes in gerechter Frömmigkeit erfreuen dürfen. Die Männer verließen mit funkelnden Augen die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde.
Finster, aber gleichgültig betrachteten die Verteidiger des Musa Dagh den Untergang ihrer Heimat.
Was war mit der Zeit geschehen? Wieviel Ewigkeiten brauchte ein Tag, bis er sich in der Nacht verkrochen hatte? Und wie schnellfüßig war noch der Tag gegen die Schnecke Nacht? Wo war Juliette? Wohnte sie schon lange in diesem Zelt? Hatte sie überhaupt jemals in einem Hause gewohnt? Hatte sie einmal in Europa gelebt? Wer war Juliette? Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das unter dem Bergvolk gefangen saß. Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das allmorgendlich mit der gleichen entsetzten Verwunderung erwachte. Eine weiße müde Gestalt glitt vom Bett, trat auf den Teppich, nahm einen Schlafrock um und setzte sich auf den Klappstuhl vor den kleinen Spiegeltisch, um ein fahles und doch von der Sonne versehrtes Gesicht zu bestarren. War es denn möglich? Konnte dieses Gesicht mit den matten Augen, den ausgetrockneten Haaren und dem verbrannten Teint einem jungen Menschen gefallen? Seit einigen Tagen entließ Juliette ihre СКАЧАТЬ