Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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СКАЧАТЬ das unschuldigste Opfer des armenischen Kriegsglücks. Seine Exzellenz aber, der Wali von Aleppo, fand die Formulierungen des Kaimakams von Antiochia so bedeutsam, daß er sie mit eigenen bekräftigenden Zusätzen an den Herrn Minister des Innern weiterdepeschieren ließ. Der Untergebene hatte mit feinen Fingerspitzen eine brennende Wunde seines Vorgesetzten berührt. Seitdem nämlich der große Dschemal Pascha, mit der unbeschränkten Macht eines römischen Prokonsuls ausgerüstet, in Syrien kommandierte, waren sämtliche Walis und Mutessarifs zu Schattenkönigen zusammengeschrumpft. Dschemal Pascha behandelte diese Großmächtigen etwa wie Intendanten seines Armeenachschubs. Sie bekamen von ihm strenge Befehle, dort und dorthin soundso viel tausend Oka Weizen zu befördern oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt diese und jene Straße in tadellosen Stand zu setzen. Der Feldherr schien die ganze Zivilbevölkerung für eine lästige Schmarotzerherde zu halten und die Zivilregierung für ein gänzlich überflüssiges Übel. Seine Exzellenz von Aleppo nahm daher die Gelegenheit nicht unerfreut wahr, dem eisernen Pascha eins aufs Zeug zu flicken und die Herrschaften in Stambul von dem kläglichen Mißerfolg des überheblichen Militärs in Kenntnis zu setzen. Talaat Bey las das Meisterwerk des Kaimakams von Antiochia seinerseits mit gemischten Gefühlen. Er hatte die Aufgabe, den inneren Dienst gegen militärische Vordringlichkeiten in Schutz zu nehmen. Auch bedeutete für ihn die Armenierverschickung eine weit erhabenere Tatsache als der langweilige Ehrgeiz unbefriedigter Eisenfresser. Er fuhr, wie es seine Gewohnheit war, mit der gewaltigen Tatze mehrmals an der weißen Weste hinab. Dann aber fügten die flinken Telegrafistenfinger an dieser gewaltigen Tatze die Depeschenblätter mit einer Klammer zusammen. Er legte einen Zettel mit den Worten bei: »Bitte dringend um positive Erledigung.« Der Akt wanderte unverzüglich auf den Schreibtisch des Kriegsministers. Enver Pascha pflegte niemals eine Bitte Talaats abzuschlagen. Als die Herren einander am Abend beim Endjumen, dem engeren Ministerrat, begegneten, trat Enver auf seinen Freund zu. Der junge Kriegsgott lächelte mit seinen langen Mädchenwimpern befangen: »Ich habe wegen des Musa Dagh an Dschemal energisch telegrafiert ...« Ohne Talaats Dank abzuwarten, fügte er mit zierlicher Spottgrimasse hinzu: »Ihr könnt mir alle dankbar sein, daß ich diesen verrückten Menschen nach Syrien abgeschoben und kaltgestellt habe.«

      Vor dem Jaffator in Jerusalem stand ein arabisches Hotel, dessen Fenster auf die Davidzitadelle mit ihrem hochragenden Minarett hinausgingen. In diesem Hotel hatte Armeegeneral Dschemal Pascha vorübergehend sein Hauptquartier aufgeschlagen, als die Depeschen Envers, des Wali von Aleppo und anderer Funktionäre einlangten, die ihn um eine rasche Bereinigung der armenischen Schmach ersuchten. (In jenen Tagen pflegten die jungtürkischen Machthaber einander ganze Bücher zu telegrafieren. Es war nicht allein die Dringlichkeit, sondern eine barbarische Freude an dem vermittelnden Strom, die sie zu solchem Wortreichtum verführte.) Dschemal Pascha saß allein in seinem Zimmer. Weder Ali Fuad Bey noch auch der Deutsche von Frankenstein, seine beiden Stabschefs, waren anwesend. Dschemal Pascha konnte sich deshalb gehenlassen. Nur Osman, der Oberste seiner Leibwache, stand an der Tür, ein reckenhafter Bergbewohner, der wie eine ausgestopfte und behängte Figur im Waffenmuseum wirkte. Mit seiner Leibwache verfolgte Dschemal einen doppelten Zweck. Er frönte mittels ihrer romantischen Ausstattung der Prachtsucht des Asiaten, die in dem farblosen Kriegsbetrieb der Gegenwart sonst nicht auf ihre Kosten kam. Zugleich aber beschwichtigte er durch sie eine Seelenregung, die alle Diktatoren seit eh und je vor ihren weniger erfolgreichen Mitmenschen auszeichnet, die Attentatsfurcht. Osman durfte nicht von seiner Seite weichen, hauptsächlich dann nicht, wenn irgendein Herr aus Stambul vorsprach. Dschemal hielt es nämlich durchaus nicht für ausgeschlossen, daß seine lieben Brüder Enver und Talaat ihm einen tüchtigen Agenten des Todes mit guten Empfehlungen zu senden willens waren. Er las die Depeschen aufmerksam, insbesondere die von Enver Pascha. Obgleich der Fall, um den es sich handelte, ohne größere Bedeutung war, wurde seine gelbe Gesichtsfarbe noch fahler und die starken Lippen unter dem schwarzen Vollbart erblaßten vor Wut. Der General sprang auf und begann im Zimmer umherzulaufen. Er war ebenso klein wie Enver, aber ganz und gar nicht zierlich, sondern eher vierschrötig. Er hielt die linke Schulter etwas hochgezogen, weshalb Leute, die ihn nicht genau kannten, ihn für verwachsen ansahen. Aus den goldbesetzten Ärmeln seines Generalsrockes hingen schwere rote Hände herab. Angesichts dieser Hände verstand man die Sage, die ihn zum Enkel des Scharfrichters von Stambul machte. Enver Pascha war aus dem leichtesten Stoff, Dschemal Pascha aus dem schwersten Stoff der Welt gebildet. War an jenem alles träumerisch launenhaft, so an diesem alles leidenschaftlich wüst. Dschemal Pascha haßte mit dem unerschöpflichen Haß des niedriger Gearteten den anmutigen Götterliebling. Er mußte sich alles schwer verdienen, was dem anderen unverdient in den Schoß fiel: Kriegsruhm, Spielerglück, Frauengunst. Dschemal nahm noch einmal die Depesche zur Hand und versuchte aus dem amtlichen Wortlaut Envers koketten Tonfall herauszuhören.

      In diesem Augenblick stand das Schicksal der sieben Gemeinden des Musa Dagh so scharf auf des Messers Schneide wie noch nie. Ein Dienstzettel Dschemals hätte genügt, um zwei volle Infanteriebataillone, eine Gebirgskanonenbatterie und einige Maschinengewehre gegen den Damlajik zu werfen. Damit wäre die Sache trotz Gabriel Bagradian und aller Tapferkeit binnen einer Stunde erledigt gewesen. Während Dschemal aber die Depesche noch einmal las, schien seine Wut den Siedepunkt zu übersteigen. Er brüllte den verdutzten Osman an, er möge ihn allein lassen und bei Todesstrafe nicht wieder zu stören wagen. Dann ging er ans Fenster, zog sich aber sofort wieder zurück, damit ihn niemand in seinem nackten Seelenzustand sehe. Könnte er Enver doch zermalmen! Diese Salondame des Krieges! Diesen geblähten Favoriten der schönen Welt! Diesen Faiseur, der niemals eine echte Männertat getan, der seinen Siegerruhm erschlichen hatte, bei der Wiedereroberung Adrianopels mit seinen Reitern sich vorschlängelnd, nachdem alles längst entschieden war. Und diesem eitlen unbedeutenden Lustknaben des Ottomanischen Reiches mußte ein Dschemal nachstehen. Dieser geriebene Fant durfte es versuchen, einen Dschemal durch die Machtverleihung in Syrien erledigen zu wollen. Die Raserei des Generals gegen den Mars von Stambul reichte mehrere Seelenschichten tief. Ausgelöst wurde sie durch eine lächerliche Lappalie. Envers Telegramm begann mit den Worten: »Ich bitte Sie, schleunige Maßregeln zu ergreifen ...« Die Anrede »Euer Exzellenz«, ja selbst das einfache »Pascha« fehlte. Nun war Dschemal ein Fanatiker der Förmlichkeit, und insbesondere im Verkehr mit Enver. Er wahrte mit gravitätischem Ernst die Form sogar bei freundschaftlichen Zusammenkünften. Mit fiebrischer Verletzlichkeit aber achtete er darauf, daß Enver Pascha auch ihm die gebührende Ehre bezeuge und keinen Buchstaben seiner Würde raube. Die Depesche mit der hochmütig vergessenen Anrede war nur der letzte Tropfen, der das Gefäß von Dschemal Paschas Haß zum Überlaufen brachte. Enver hatte in den letzten Monaten an den General die ungeheuerlichsten Forderungen gestellt, die von diesem schweigend erfüllt worden waren. Zuerst hatte Dschemal die achte und zehnte Division nach Stambul zurücksenden müssen, später noch die fünfundzwanzigste, und schließlich wurde das ganze dreizehnte Armeekorps nach Bagdad und Bitlis umbeordert. Im Augenblick gebot der kriegerische Diktator Syriens nur mehr über sechzehn bis achtzehn schäbige Bataillone, und zwar in einem riesigen Armeebereich, der von den Gipfeln des Taurus bis zum Suezkanal reichte. Dies war das Werk Enver Paschas und nicht das der vorgeschützten allgemeinen Kriegslage, davon war der knirschende Dschemal überzeugt. Der Generalissimus hatte ihn auf seine taschenspielerische Art völlig entwaffnet, ihn unschädlich gemacht und zugleich um jede Möglichkeit eines Erfolges gebracht. Mit dem erleuchteten Gedächtnis des Hasses brachen in Dschemals Geist hundert verräterische Einzelheiten auf, in denen sich Envers geringschätzige Beziehung zu ihm spiegelte. Dieser mitsamt seiner Clique hatte ihn immer ferngehalten, von entscheidenden Beschlüssen nicht verständigt, zu intimen Beratungen nicht eingeladen. Das Verhältnis war für Dschemal von allem Anfang an eine Kette von ausgesuchten Erniedrigungen gewesen, und die größte Erniedrigung lag darin, daß er sich gegen Enver nicht behaupten konnte, daß er durch dessen Gegenwart und Wirkung rettungslos zum zweiten Rang herabgedrückt wurde, obgleich er von seiner eigenen Überlegenheit als Führer und Soldat erfüllt war. Dschemal Pascha lief, die linke Schulter hochziehend, noch immer um den Tisch. Er fühlte sich völlig machtlos. Durch seinen Kopf zuckten knabenhafte Traumbilder. Mit einer neuen Armee in Stambul einrücken und die freche Blase gefangensetzen, den alliierten Flotten den Bosporus öffnen und ein Bündnis mit dem gegenwärtigen Feinde schließen! Er nahm zum drittenmal die Depeschen in die Hand, warf sie aber sogleich wieder hin. Womit nur konnte man Enver und Genossen am giftigsten weh tun!? Dschemal wußte, daß sie die Ausrottung der Armenier für СКАЧАТЬ