Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr - Franz Werfel страница 117

СКАЧАТЬ ein wenig herzurichten. Endlich zog sie sich an, band eine große Schürze vor ihr Kleid und schlang ein weißes Tuch um den Kopf wie eine Haube. Seitdem sie im Lazarettschuppen arbeitete, trug sie keine andere Gewandung mehr. Haube und Schürze taten ihr moralisch wohl. Sie empfand sie wie eine Uniform, die ihrer Stellung auf dem Damlajik äußerlich am gemäßesten war.

      Ehe Juliette das Zelt verließ, warf sie sich vor ihrem Bett nieder und umarmte das Kopfkissen, noch einmal den wachen Tag von sich weisend. Früher, vor Tagen (Jahren?), war sie nur ganz verloren und unselig gewesen. Jetzt aber sehnte sie sich nach jener Unseligkeit ohne Schuld zurück. Noch nie, seitdem die Welt bestand, hatte sich eine Frau so niedrig benommen wie sie. Und eine ehrbare, eine selbstbewußte Frau, der in langer Ehe niemals ein »Erlebnis« nahegekommen war. Wären aber nicht hundert Erlebnisse und Liebesabenteuer in Paris läßliche Bagatellen gewesen gegen diesen allergemeinsten Verrat in Angesicht des Verzweiflungskampfes und sicheren Todes? Wie ein kleines Mädchen flüsterte Juliette ins Kissen: »Ich kann nichts dafür.« Doch was half ihr das? Sie war durch einen Machtspruch, den sie nicht kannte, in der unerbittlichen Fremde dem anheimgegeben, was ihr verwandt erschien. Wie um eine Gegenkraft in sich zu erzeugen, rief sie halblaut: »Gabriel!« Aber Gabriel war ebensowenig vorhanden wie Juliette. Sein wahres Bild konnte sie immer seltener aus dem verblaßten Photographienalbum ihrer Erinnerung hervorholen. Und der fremde, bärtig braune Armenier, der sich dann und wann zu ihr setzte, was hatte der mit Gabriel zu schaffen? Juliette erschrak über ihre Tränen, wusch die Augen sorgfältig und wartete, bis sie nicht mehr rot und häßlich waren.

      Bedros Altouni hatte alle Verwundeten, die nicht schwer fieberten, fortgeschickt oder in ihre Hütten tragen lassen. Wenn er diese Maßnahme auch nicht näher begründete, so lag doch ein heikler Anlaß dafür vor. Der armenische Sieg vom 14. August hatte sich blitzschnell in den Ebenen und Gebirgen Nordsyriens herumgesprochen. Insbesondere den Fahnenflüchtigen, die sich auf anderen Bergen ringsum noch versteckt hielten, war er sehr zu Herzen gegangen. Tatsächlich meldeten sich schon am nächsten Tage zweiundzwanzig neue Deserteure bei den vorgeschobenen Posten und verlangten Aufnahme in die Kämpferreihen. Gabriel Bagradian, der wegen Verrates und Spionage auf der Hut sein mußte, prüfte die Kandidaten eingehend. Da sie sich durchwegs als Armenier ausgaben, da jeder ein Mausergewehr und Munition besaß, da man ferner die Verluste ersetzen mußte, nahm er alle Zuzügler an. Unter ihnen befand sich auch ein sehr junger Mann, der einen verwirrten und benommenen Eindruck machte. Er behauptete, erst vor vier Tagen aus einer Infanteriekaserne von Aleppo geflohen zu sein und den beschwerlichen Fußmarsch schlecht überstanden zu haben. Am Abend bereits erschien der junge Mensch totenblaß im Lazarett bei Bedros Hekim und brach, nachdem er Unverständliches gelallt hatte, bewußtlos zusammen. Der Arzt ließ ihn sogleich entkleiden. Den Körper des armen Burschen schüttelte ein rasendes Fieber. Seine Brust war mit kleinen roten Punkten besät, die sich über Nacht noch vermehrten. Bedros Altouni hatte seit langer Zeit wieder das entfremdete Handbuch vorgenommen. Aber die Hieroglyphen waren für ihn nicht leserlicher geworden. Jetzt wollte er die Französin zu Rate ziehen und zeigte auf den Kranken.

      »Sehen Sie diesen da an, meine Liebe! Was halten Sie davon?«

      Juliette war kein Wesen, das sich an Graus und Elend gewöhnen konnte. Jedesmal, wenn sie den Lazarettraum betrat, hatte sie mit dem Erbrechen zu kämpfen. Sie gab sich Mühe, sie griff überall zu, dennoch wurde der Abscheu und Ekel immer heftiger anstatt gelinder. In dieser Sekunde aber kam eine ganz unverständliche Exaltation über sie. Es war ihr, als müsse sie hier auf der Stelle ihren Verrat sühnen. Der grindige, übelriechende Mensch, der zu ihren Füßen mit schaumbedecktem Mund bewußtlos im Fieber zuckte, war Gabriel und Stephan in einer Person. Juliette kniete hin und näherte – als falle sie selbst langsam in Ohnmacht – ihren Kopf mit den geschlossenen Augen der eingefallenen Brust des Kranken.

      Erst Gonzagues Stimme fuhr ihr ins Herz und weckte sie:

      »Was tun Sie da, Juliette? Das ist doch Unsinn ...«

      Daraufhin schien auch der alte Arzt Madame Bagradians wegen Gewissensbisse zu bekommen:

      »Es wäre vielleicht wirklich besser für Sie, wenn Sie sich jetzt weniger fleißig bei uns aufhielten ...«

      Gonzague zwinkerte ihr heimlich zu. Gehorsam folgte sie ihm. Auch in bezug auf Gonzague war für Juliette die Zeit ganz und gar durcheinandergerüttelt. Wann war es geschehen? In welcher Vergangenheit? Seit wann folgte sie ihm wehrlos, wenn er sie rief? Wie schwer und dick war der Verrat und das Schweigen schon geworden! Gonzague aber hatte sich nicht verändert. Dieselbe dichte Aufmerksamkeit seiner Blicke und Gedanken, die keine unbewachte Fuge frei ließ. Das Lagerleben hatte seiner Erscheinung noch immer nichts angehabt, sein Scheitel blieb zu jeder Stunde tadellos gezogen, sein Rock peinlich sauber gebürstet, sein Körper rein, seine Haut hell, sein Atem appetitlich. Liebte sie ihn? Es war etwas viel Schrecklicheres! Unglückliche Liebe ahnt immer einen Weg, wenn auch nur im Traum. Dies hier war weglos. Gonzague schien oft noch weniger vorhanden zu sein als Gabriel. Anfangs etwas Angenehmes, etwas Heimisch-Trautes, etwas in der Welt Verirrtes, das Mitgefühl erweckte, hatte er sich in eine grausame Unentrinnbarkeit verwandelt, gegen die es keine Hilfe gab. Wenn er sie berührte, empfand sie, was sie nie empfunden hatte. Doch mit dieser Empfindung wuchs auch der Selbsthaß der Verräterin. Schon waren manche baumumhegte und umbuschte Einöden auf der Meeresseite zu mitwissenden Orten geworden. Mit dem letzten Aufgebot ihres Stolzes spürte Juliette: Ich, hier auf der Erde, ich ...? Gonzague aber verstand es immer wieder, alles Häßliche auszuschalten. Vielleicht war er ein Genie der Einseitigkeit, wie es Spieler, Sammler, Jäger sind, die ebenfalls nur eine einzige Neigung und Begabung übermäßig ausgebildet haben. Mit diesen Leuten teilte er auch die zielstrebige und unerschöpfliche Geduld. Sie hatte Gonzague auf den Damlajik geführt und ihn mit sicherer Bescheidenheit seinen Tag erwarten lassen. Sein gesammeltes Wesen erweckte in Juliette ein Gegenwesen der Zerfahrenheit und Willenslähmung. Oft kam über sie eine wuchernde Geistesabwesenheit. Mit widerwärtig pelzigen Blättern rankte in ihr ein inneres Geschehen, das allgemach dem Licht jeden Zutritt verwehren wollte. Sie saßen auf einem der Ruheplätze, die sie untereinander »die Riviera« nannten. Gonzague teilte seine Zigarette in zwei Hälften und zündete die eine umständlich an:

      »Ich habe nur noch fünfzig Stück ...« Und als ob er dem sorgenvollen Gedanken wegen des ausgehenden Tabaks, damit eine beruhigende Wendung geben wollte: »Nun, wir werden bald nicht mehr hier sitzen ...«

      Sie sah ihn entgeistert an. Seine Stimme blieb lässig:

      »Ich meine, wir werden beide davongehen, du und ich! Es wird Zeit.«

      Sie schien ihn noch immer nicht zu verstehen. Da setzte er ihr seinen Plan mit der trockensten Genauigkeit auseinander. Nur die ersten zwei Stunden seien ein bißchen beschwerlich. Eine kleine Bergpartie, weiter nichts. Man müsse ein Stück auf dem Felsgrat nach Süden klettern, um rechts von dem kleinen Dorf Habaste die Orontesebene und die Straße nach Suedja zu erreichen. Er habe die gestrige Nacht dazu benützt, diesen Weg zu rekognoszieren, und sei ungeschoren, ohne einem Menschen zu begegnen, in das Geviert der Spiritusfabrik und in die Wohnung des Direktors gelangt, der, wie Juliette ja wisse, ein Grieche und eine einflußreiche Persönlichkeit sei. Er staunte, wie einfach und natürlich sich der ganze Plan erweise:

      »Der Direktor stellt sich uns vollkommen zur Verfügung. Am sechsundzwanzigsten August geht der kleine Küstendampfer der Fabrik mit einer Warenladung nach Beirût ab. Nach zwei kleinen Zwischenlandungen in Latakijeh und Tripoli soll er fahrplanmäßig am neunundzwanzigsten in Beirût eintreffen. Der Dampfer fährt unter amerikanischer Flagge. Es handelt sich ja auch um eine amerikanische Fabrikgesellschaft. Der Direktor behauptet, daß nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, da die Zypernflotte in diesen Tagen wieder ausläuft. Du wirst eine eigene Kabine haben, Juliette. Wenn wir in Beirût sind, hast du das Spiel gewonnen. Alles Weitere ist eine Geldfrage. Und Geld besitzt du ja ...«

      Ihre Augen wurden ganz schwarz:

      »Und Gabriel und Stephan ...?«

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