Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel
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СКАЧАТЬ des Lazarettschuppens. Mairik Antaram blieb bei Howsannah. Sie drängte die Vordringlichen mit kräftigen Fäusten und Worten zurück. Entschlossen waltete sie ihres Amtes, das ihr seit Jahrzehnten vertraut war. Und doch, so alt Mairik Antaram auch geworden, sie konnte keiner Kreißenden beistehen, ohne daß ihr die beiden mißglückten Geburten ihrer eigenen Jugend einfielen. Iskuhi kühlte mit ihrer trotz des Gluttages eisigen Hand die Stirn der Schwägerin. Ihre Augen lagen mit ängstlichem Eifer auf Mairik Antaram, damit ihr ja keine Weisung entgehe. Mit ihrer ganzen Energie konnte es die Doktorsfrau nicht verhindern, daß die Menschen immer wieder mit Fragen, Ermunterungen, Ratschlägen in das Zelt eindrangen. Auch Gabriel erschien, um sich zu erkundigen. Iskuhi fiel es trotz des betäubenden Treibens auf, wie verfallen und blaß sein bärtiges Gesicht seit gestern war. Sie wunderte sich auch darüber, daß Juliette kaum eine halbe Stunde bei Howsannah blieb, da man doch so lange schon wie eine Familie miteinander hauste. Aram, der Gatte, tauchte alle zehn Minuten einmal auf, lief aber sogleich wieder davon. Er behauptete, daß er unabkömmlicher sei als je, damit nach dem gestrigen Siege und dem Abzug der Türken keine schlaffe Beruhigung unter den Diensthabenden einreiße. In Wahrheit aber jagten ihn Erregung und Sorge um sein Weib im Kreise umher. Der gute Vater Tomasian folgte seinem Sohne von fern auf den verschlungenen Irrwegen, damit der Pastor für seine Überreiztheit einen Blitzableiter habe. In freudiger Erwartung eines Stammhalters hatte der Baumeister seinen schwarzen Sonntagsrock angetan. Die goldene Uhrkette lag noch immer waagerecht auf seinem Bauch, der unter der mageren Fleischkost nicht gelitten hatte. Jeder Freund brachte irgendein Geschenk oder Hausmittel, Apotheker Krikor zum Beispiel ein Fläschchen mit Wacholderessenz eigener Erzeugung, um Herz und Nerven zu stärken. Doch dies war eine sehr harmlose Gabe, denkt man an das Hahnen-Ei. Als die Sache kein Ende nehmen wollte und die ergebnislosen Wehen sich immer von neuem wiederholten, erschien plötzlich eine alte Frau, die ein überlebensgroßes Ei in der Hand hielt und behauptete, dieses Ei habe bei Neumond ein Hahn gelegt. Wenn eine Schwergebärende dieses Naturprodukt roh und mit der Schale zu sich nehme, sei das Kind im Handumdrehen heraußen. Mairik Antaram, die mit den Leuten weit besser umzugehen verstand als ihr Gatte, dankte dem alten Weibe für das Ei-Ungeheuer, versprach sofortige Befolgung ihres Ratschlages und schob sie hinaus. Die Frauen des Volkes mißbilligten es, daß Howsannah Tomasian während ihrer Leiden keinen Schmerzlaut mehr von sich gab. Sie witterten irgendeinen Hochmut dahinter. Und es war auch, wenn man will, ein Hochmut der Scham. Längst waren Nunik, Wartuk, Manuschak wieder auf dem Plan erschienen. Nunik selbst hockte im Zelte und betrachtete die Mühewaltung Antarams mit nachsichtig belustigten Fachaugen, wie etwa ein weltberühmter Chirurg die Arbeit eines Dorfbaders betrachten würde.

      Nach mehr als achtstündigen Qualen gebar Howsannah endlich einen Knaben. Das Kind, das schon im Mutterleibe seit Zeitun soviel Angst und Elend durchlitten hatte, war bewußtlos und atmete nicht. Antaram schüttelte den winzigen Körper, der noch voll Blut und Pech war, während Iskuhi in seinen Mund hauchen mußte. Nunik aber und ihre Kolleginnen, die besser Bescheid wußten, raubten blitzschnell die Nachgeburt, steckten sieben Nähnadeln aus dem Besitz sieben verschiedener Familien hinein und warfen das Ganze ins Feuer. Das Leben, das sich in den leblosen Teil geflüchtet hatte, um seinem Erdengeschick zu entgehen, durch das Feuer wurde es frei. Einige Sekunden später begann das Kind zu schlucken, dann zu atmen, dann zu wimmern. Mairik Antaram reinigte es vorsichtig mit Hammelfett. Die stillgewordene Menge begann Beifall zu rufen. Die Sonne ging unter. Pastor Aram ergriff mit dem ungeschickten und etwas lächerlichen Stolz des jungen Vaters das runzlige Lebewesen, das ein Mensch werden sollte, und hielt es den Leuten hin. Alle freuten sich und lobten Tomasian, weil es ein männliches Kind war. Rauhe Scherzworte machten unter den anwesenden Schützen die Runde. Keiner dachte an die wirkliche Zukunft. Es ist ungewiß, wer als erster jenes kleine rundliche Feuermal bemerkte, das dieser echte Sohn des Musa Dagh über seinem kleinen Herzen trug. Die Frauen rieten über die Bedeutung des Zeichens hin und her. Nunik, Wartuk, Manuschak aber, die von Berufs wegen die Enträtselung solcher Chiffren verstehen mußten, äußerten nichts, banden ihre Schleier um, nahmen ihre Stöcke zur Hand und machten sich reichbeschenkt auf den Rückweg. Weit griffen ihre braunen Greisenbeine aus. Und wiederum glichen sie irgendwelchen Masken des antiken Chors, wie sie im aufsteigenden Mond zu den Gräbern der Vergangenheit hinabwanderten.

      Nicht mehr als drei Tage und drei Nächte waren hingegangen, da meldeten die Beobachter allerlei unverständliche Bewegungen in den Dörfern.

      Gabriel Bagradian bezog sofort einen Späherposten. Und wirklich, im Ausschnitt des Zeißglases zeigte sich lebhaftes Gewimmel in scharf unterschiedenen Gestalten. In der Orontesebene, auf der Straße zwischen den Dörfern, auf den Karrenwegen und Saumpfaden ringsum schlichen Züge von Ochsenkarren dahin. In den Dörfern selbst sah man größere Menschenhaufen mit Fez und Turban in eiligem Hin und Her. Gabriel tastete jedes Fleckchen mit dem Glas ab, doch er bemerkte nicht einen einzigen Soldaten und nur einige wenige Saptiehs. Dagegen bemerkte er, daß diesmal nicht nur der altbekannte Pöbel von Antakje und Umgebung in die verlassenen Ortschaften eingebrochen war; der Zustrom des heutigen Tages machte einen gewichtigeren Eindruck und schien auf ein planvolles Ziel hinzusteuern. Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk herrschte hastiges Treiben. Turbanträger erkletterten die Feuerleiter der Kirche und bewegten sich im leeren Glockenturm seitlich der großen Kuppel. Langgedehnte Töne eines ganz dünnen Stimmchens wurden hörbar, nein, ahnbar, die in die vier Weltrichtungen verhallten. Vom Hause Christi schickte der Gebetrufer des Propheten die klagende Lockmelodie aus, die jeden Moslem erzittern läßt und die nun aus allen Flecken, Weilern, Hütten des öden Landes die Gläubigen in die Dörfer des Musa Dagh zu verführen schien. Das Schicksal der Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten«, die Awetis der Alte errichtet hatte, war besiegelt. Und im Hirne des Enkels zuckte der heiße Wunsch auf, den stolzen Zerstörungsversuch mit einigen Haubitzgranaten zu wagen. Doch er verwarf dieses Gelüste, kaum daß es geboren war. Sein alter Grundsatz, immer nur verteidigen, nie angreifen, durfte von ihm am allerwenigsten durchbrochen werden. Am gefährlichsten wirkte der Berg auf die Feinde dort unten gewiß, wenn er tot und geheimnisvoll dalag. Jede Herausforderung mußte den Abwehrkampf schwächen, weil sie den Türken, als dem Staatsvolk, ein moralisches Recht der Strafe verschaffte.

      Angesichts des unbekannten Gewimmels im Tale fragte sich Bagradian, wie viele Kämpfe man noch werde durchhalten können. Die Munition blieb trotz der zweimaligen Siegesbeute und Nurhans Patronenmanufaktur äußerst begrenzt. Herzbeklemmend war der Umstand, daß der geringste Mißerfolg, die kleinste Schlappe unwiderruflich zum Untergang führen mußte. Für das Volk des Damlajik gab es keine Zwischenstufen, sondern nur Siege oder den Tod. Der Verlust eines einzigen Grabens schon bedeutete das Ende. Gabriel Bagradian überlegte wie schon tausendmal, daß nicht nur ein solcher Verlust das Ende bedeute, sondern alles, das Gute und Schlimme, wie immer es sich auch gestalte. Seine kriegerische Kunst hatte nur dieses Ende hinauszuzögern, so lange wie möglich. Zu diesem Zwecke durfte das Kapital der panischen Angst, die der Berg den Türken nach ihrer doppelten Niederlage offensichtlich einflößte, nicht unnütz verausgabt werden. Die neue Bevölkerung des Tals wuchs von Minute zu Minute. Eine militärische Unternehmung ist sicher nicht geplant, stellte Bagradian nach längerer Zeit fest. Die Absicht dieser Neusiedlung aber verstand er noch nicht ganz. Vielleicht war es die wirkliche, vielleicht nur die demonstrative Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam. Vor der Kirchentür von Yoghonoluk unterschied er eine kleine Gruppe von europäisch gekleideten Herren. Der Müdir mit seinen Unterbeamten, meinte er und freute sich, daß kein Offizier dabei war, um die Kriegslage zu begutachten. Dennoch gab Gabriel Bagradian den Befehl, die Bereitschaft in den Stellungen aufs äußerste zu verschärfen. Er ließ ferner alle Beobachterstände mit verdoppelten Posten besetzen und legte Kundschaftergruppen an alle Zugangspunkte des Damlajik bis zu den Obst- und Weingärten hinab, damit sie einen etwaigen Überrumpelungsversuch der Türken bei Nacht unmöglich machten.

      Gabriel hatte richtig geschätzt. Vor der Kirche von Yoghonoluk stand der sommersprossige Müdir. Doch es war noch ein Ranghöherer erschienen, der leberkranke Kaimakam höchstselbst, um nach dem Rechten zu sehen. Das hatte seinen guten Grund. In Antiochia nämlich war nach dem zweiten, noch traurigeren und schmählicheren Rückzug der regulären Streitmacht einiges geschehen, was bedeutsame Folgen nach sich zog.

      Zwischen dem Kaimakam und dem armen Bimbaschi mit den Kinderwangen СКАЧАТЬ