Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
isbn:
»Nun, was ist denn noch, Sommer?«, fragte er. »Gehe ich zu schnell? Wir können ruhig auch langsamer gehen, der Zug fährt erst in zwanzig Minuten.«
»Sehen Sie, Herr Schulze«, fing ich an. »Ich habe so furchtbare Zahnschmerzen, und da drüben sehe ich gerade einen Gasthof. Darf ich nicht schnell einmal hineingehen und einen Kognak oder Rum trinken? Das hilft mir sofort gegen die Zahnschmerzen. Sie können«, fuhr ich schnell fort, »ruhig neben mir an der Theke stehen, wenn Sie Angst haben, ich laufe Ihnen fort. Ich laufe Ihnen bestimmt nicht fort, es ist nur wegen meiner grässlichen Zahnschmerzen.«
»Das schlagen Sie sich nur ruhig aus dem Kopf!«, sagte der Wachtmeister bestimmt. »Da müsste ich ja wohl meinen Rock ausziehen, wenn bekannt würde, ich habe mit einem Gefangenen Schnaps an der Theke getrunken. Daraus wird nichts, Sommer.«
»Aber es kennt mich hier doch kein Mensch, Herr Schulze«, rief ich bittend. »Es kommt bestimmt nie heraus!«
»Da!«, rief der Wachtmeister und legte grüßend die Hand an den Tschako. Das Auto des Arztes, in dem neben Dr. Mansfeld der Staatsanwalt saß, war an uns vorübergefahren. »Wenn die beiden uns hätten in den Gasthof reingehen sehen, ich wäre schon ›drin‹ gewesen! Also, kommen Sie jetzt weiter, Sommer.«
»Herr Schulze«, sagte ich flehend und ging keinen Schritt von diesem Platz am Gasthof, meiner letzten Chance. »Nun ist aber wirklich kein Einziger mehr hier, der mich kennt. Tun Sie mir doch den Gefallen! Nur ein einziger Schnaps! Ich will meiner Frau auch sagen, sie soll Ihnen hundert Mark …«
»Nun wird es mir aber doch zu bunt!«, schrie der Wachtmeister und war rot vor Zorn. »Sind Sie denn ganz verrückt geworden, Sommer? Das ist ja eine Beamtenbestechung, die Sie da versucht haben! Das müsste ich ja eigentlich auf der Stelle anzeigen! Sofort kommen Sie jetzt mit, oder ich nehme Sie an die Kette!«
Völlig verschüchtert, gänzlich niedergeschmettert, der letzten Hoffnung beraubt, folgte ich dem aufgebrachten Herrn Schulze. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, er ärgerlich vor sich hin murmelnd, ich mit gesenktem Kopf und schleppenden Gliedern.
Dann sagte der Wachtmeister ruhiger: »Ich verstehe Sie nicht, Sommer. Sie waren sonst doch ein ganz ordentlicher, solider Mann, und nun machen Sie solche Zicken! Haben Sie denn noch immer nicht genug von der ollen Sauferei? Hat Sie die nicht schon weit genug ins Unglück gestürzt? Jedenfalls will ich Ihre Lage nicht noch schlimmer machen, als sie schon ist. Ich habe nichts gehört. Aber nun seien Sie auch ein Kerl, Sommer, und reißen Sie sich zusammen. In ein paar Tagen sind Sie aus dem Keller raus und haben wieder einen klaren Kopf, und dass Sie den gewaltig brauchen werden, das müssten Sie nach den Worten des Herrn Staatsanwaltes doch eigentlich wissen!«
Ich hörte mir das alles schweigend und ohne zu antworten an. Es demütigte und kränkte mich tief, dass ein so einfacher Mann wie der Wachtmeister Schulze es sich herausnehmen durfte, so mit mir zu reden. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass ich erst am Anfang eines langen Leidensweges stand und dass noch ganz andere und sehr viel tiefer stehende Menschen noch viel, viel deutlicher mit mir reden würden.
Wir waren auf dem Bahnhof angekommen, und Wachtmeister Schulze kaufte hier zwei Fahrkarten dritter Klasse für uns. »So«, sagte er dann und trat mit mir auf den Bahnsteig unter die dort wartenden Leute hinaus. »Und nun lassen Sie den Kopf nicht hängen, Sommer, sondern unterhalten Sie sich ruhig mit mir, dann merkt keiner was, sondern jeder denkt, wir sind gute Bekannte und haben uns ganz zufällig getroffen. Wir sind ja wohl auch schon daheim nach dem Skat miteinander die Breite Straße ein Stück lang gemeinsam gegangen, und Sie und keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass wir etwas anderes als Bekannte wären …«
Damit hatte er recht. Und da ich nun den Schreck über den abgeschlagenen Schnaps einigermaßen überwunden hatte, kam wirklich eine ganz vernünftige Unterhaltung zustande, erst über die eben einsetzende Heuernte, dann über die allgemeinen Ernteaussichten. Schulze und ich, wir waren beide der Ansicht, dass es im Allgemeinen nicht schlecht aussähe, jetzt aber müsse Regen kommen, das Frühjahr sei zu trocken gewesen, und besonders die Sommerung,1 aber auch die Hackfrüchte brauchten nötigst Feuchtigkeit.
Die kurze Bahnfahrt verging mir so schnell genug, und von den im Abteil Mitreisenden ist wohl keiner auf den Gedanken gekommen, dass hier ein des Mordversuches Verdächtiger abgeführt wurde. (Manchmal wollte ich mir als so schwerer Verbrecher wahrhaft glorios verrucht vorkommen.) Als wir dann aber auf dem heimatlichen Bahnhof ankamen und uns durch viele Wartende hindurchzwängten, in die Bahnhofshalle kamen, und auf den Platz vor dem Bahnhof, da wurde mir wieder ganz bänglich zumute. Denn jeden Augenblick konnte ich jetzt einem nächsten Bekannten, ja meinen eigenen Angestellten, ja meiner eigenen Frau begegnen.
Ich zog den Wachtmeister am Ärmel und bat ihn: »Herr Schulze, können wir nicht ein bisschen hintenrum und durch die Anlagen gehen? Ich kenne hier so viele Menschen, und es wäre mir wirklich peinlich …«
Herr Schulze nickte mit dem Kopf. »Mir soll es recht sein. Es ist ja schließlich egal, ob Sie eine Viertelstunde früher oder später im Amtsgericht ankommen. Aber jetzt möchte ich mich erst ein bisschen leichter machen …«
Und damit ging Herr Schulze mit mir schräg über den Bahnhofsplatz auf jenes Gebäude zu, das ich, von der anderen Richtung kommend, gute vierundzwanzig Stunden zuvor mit Polakowski aufgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder in diesem Raum mit seinen sechs Becken zu stehen, das Wasser rauschen zu hören und den schmutzig-nassen Steinboden anzusehen. Hier hatte ich mich im Kampf mit Polakowski gewälzt – so kurze Zeit war es erst her, und doch schien es schon ganz unglaubhaft. Wie ein wilder Traum, der, solange man ihn träumte, völlig überzeugte, und der schon direkt nach dem Erwachen lächerlich grotesk anmutete. Aber ich hatte hier mit Polakowski gekämpft, es war kein Traum gewesen, und diesem abgefeimten Schurken gegenüber banden mich weder Rücksicht СКАЧАТЬ