Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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»Ich weiß es«, fuhr Herz fort, »dass zwischen den beiden Kindern wirkliche Neigung besteht. Ambrosius Tellerat hat die Absicht, Rosa zu heiraten, klar und deutlich ausgesprochen, und wie die Sachen liegen, kann und will ich ihm die Hand meiner Tochter nicht verweigern. Mit einer Heirat aber wird die jetzt so traurige Angelegenheit, meine ich, einen für alle segensreichen Abschluss finden.« Herr Herz war mit seiner Rede zu Ende und blickte jetzt zögernd auf.
Lanin saß noch immer ruhig da und lächelte. Er sah weder entrüstet noch erzürnt aus; er schaute vielmehr drein wie jemand, der an einem schwierigen Problem ein rein sachliches, geistiges Interesse nimmt. »Indem Sie von der Heirat – sprechen«, begann er langsam, wieder am Ballettänzer vorüber zum Fenster hinausgehend, »haben Sie allerdings das punctum saliens – wie der Lateiner sagt – der Sache getroffen. Nur scheint es mir, Sie fassen dieses punctum anders als ich und daher nicht ganz richtig – ganz konsequent auf.« Er hielt inne und blinzelte mit den Augenlidern. »Nein, nicht ganz konsequent«, wiederholte er nach reiflicher Überlegung. »Vom allgemeinen moralischen Standpunkt mag solch eine – Sühne – wie Sie sagen – zu verteidigen sein – vom allgemein moralischen – bitte! Die allgemeinen Moralgesetze erleiden aber durch unsere gesellschaftlichen Gesetze eine Modifikation – eine Veränderung. Das ist von jeher das Hauptaxiom meiner, wenn ich so sagen darf, persönlichen Philosophie gewesen. Nun, in der höheren bürgerlichen Gesellschaft, die doch die eigentliche Wahrerin der Moral ist, gilt eine Verbindung zwischen einem jungen Manne und einem Mädchen, das die von der höheren bürgerlichen Gesellschaft geforderte Reserve diesem jungen Manne gegenüber außer acht gelassen hat, für – unmoralisch. Ja, lieber Herz, das ist ein Gesetz, da kann man nichts machen! Die Sühne aber, welche die Gesellschaft dem jungen Manne und dem Mädchen auferlegt – ist – dass sie auf eine Verbindung miteinander verzichten.«
Herr Herz sah sehr verblüfft drein, der Bürgermeister aber lachte. »Ja – ja! Auf den ersten Blick erscheint das widersinnig – paradox, wie? Aber sehen Sie nur näher zu, es ist das einzig Richtige, das einzig Vernunftgemäße.«
»Ich weiß doch nicht…« protestierte Herr Herz leise.
»Doch – doch«, unterbrach ihn Herr Lanin. »Ist sich auch nicht ein jeder dieses Gesetzes klar bewusst, dazu besitzt nicht ein jeder die analytische Übung, so fühlt es doch ein jeder. Ihnen, lieber Herz, würde es nicht anders gehen, wären Sie im beständigen Konnex mit der höheren bürgerlichen Gesellschaft geblieben. Dieses Gesetz ist auch der Grund, warum mein Schwager nie dieser Verbindung seine Zustimmung geben würde, wenn ihm auch nicht anderweitige Pläne, die er mit Ambrosius hat, im Wege stehen würden. Nie – nie!« Herr Lanin machte mit der Hand einen vertikalen Schnitt durch die Luft. »Mein Neffe reist morgen ab, und damit ist für diese unangenehme Verwickelung die einzig vernunftgemäße, ich möchte sagen – ideal-ethische Lösung gefunden.« Herr Lanin machte einen Querschnitt durch die Luft, und damit schien die Sache wirklich vollkommen logisch und – hoffnungslos erledigt zu sein.
Herr Herz erhob sich. Lanins bunte Redensarten verwirrten ihn. »Also – Herr Direktor – wenn Sie meinen…« Er war in so jämmerlicher Verfassung, dass er Direktor statt Bürgermeister sagte und dass es ihm vorkam, als wäre er wieder der arme Komödiant, dem der Direktor sein mageres Honorar vorenthielt.
»Leben Sie wohl«, sagte Lanin herzlich. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Der allmächtige Weltenordner wird alles zum besten wenden.«
Herr Herz trocknete sich die Tränen aus den Augen. Der väterliche Abschied des Bürgermeisters rührte ihn. »Oh, ich danke – Lanin – ich danke«, damit ging er hinaus.
Im Salon huschten wieder Fräulein Sallys weiße Röcke um die Türflügel – wieder zeigte sich Frau Lanins großes, bleiches Gesicht in der halbgeöffneten Schlafkammertüre.
Herr Herz pilgerte nun zu Klappekahl. Der scharfsinnige Apotheker, der Weltmann, wusste bestimmt Rat.
Die Apotheke war dermaßen überfüllt, dass Klappekahl und Zapper nicht wussten, wo ihnen der Kopf stand. »Ah Herz, das ist charmant. Ich stehe sogleich zur Verfügung«, rief der Apotheker. »Gehen Sie, bitte, ins Wohnzimmer hinüber. Sie finden dort die Ernestine. Konversieren Sie mit ihr ein wenig. Ich muss diese Leute abfertigen. Ich weiß nicht, was das ist, eine Riesenobstruktion hat sich auf die Stadt geworfen. Bitterwasser und Rizinus – sonst nichts! Jetzt – zur Zeit der Früchte! Unbegreiflich!« Klappekahl flog davon.
Herr Herz fand im Wohnzimmer allerdings Ernestine; sie erhob sich jedoch, als er eintrat, grüßte steif und verließ das Zimmer. Es dauerte eine geraume Weile, bis der Apotheker Zeit fand, sich seinem Freunde zu widmen, und als er kam, war er atemlos und erhitzt. »Es ist fabelhaft, wie es heute morgen hier zugeht. Alles schreit nach Abführungen. Es wäre interessant, dieser Erscheinung auf den Grund zu kommen.« – Als er die betrübte Miene seines Gastes bemerkte, ward er ruhiger. »Ja so! Ich habe gehört. Armer Freund!« Er drückte Herrn Herz gefühlvoll die Hand. »Aber was tun! Man muss sich in alles schicken.«
»Ich komme zu Ihnen, lieber Klappekahl«, meinte Herr Herz, »ich dachte mir, Sie werden vielleicht etwas wissen.«
»Ja – lieber Freund«, erwiderte der Apotheker und strich sinnend mit der Hand über sein Kinn. »Ein schwieriger Fall! Nun – aber – aber – – das Schlimmste ist doch noch nicht geschehen?«
»Wie, СКАЧАТЬ