Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
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An der Treppe zögerte Rosa. Eine kleine rote Hand schob den Vorhang zurück, zwei braune Augen schauten heraus, verschwanden wieder, und gleich darauf regten sich alle Vorhänge, und hinter allen spähten neugierige Mädchenaugen hervor. »Warum tun sie so ängstlich?« fragte sich Rosa, »sollte Fräulein Schank schon da sein?« – Sie trat in das Schulzimmer. Die Mädchen standen in Gruppen an den Fenstern oder saßen auf den Bänken und Tischen beieinander. Rosa sah es den Stellungen und Mienen sofort an, dass etwas Interessantes vorgefallen war. So pflegte es in der Schulstube auszusehen, wenn irgendein Ereignis die Mädchenköpfe erhitzte. Jetzt herrschte tiefe Stille, alle Augen richteten sich auf Rosa, und in diesen neugierigen, halbbefangenen Blicken lag etwas Feindseliges, das Rosa kalt bis in die Fingerspitzen drang. Sie machte ihr leichtsinniges Gesicht und rief leichthin und munter ein »guten Morgen« in das Gemach hinein. Leise und so nebenher bekam sie hier und da ein »Morgen«, »Grüß dich« zur Antwort. Die Mädchen griffen nach ihren Büchern, sprachen über gleichgültige Dinge, als wäre nichts passiert, aber der gezwungene, ruhige Ton, die verständnisvollen Blicke ließen es wohl erkennen, dass hier ein gewichtiges Geheimnis in der Luft schwebte, von dem jetzt nicht gesprochen werden konnte.
Rosa setzte sich auf ihren Platz und begann ihre Aufgabe zu überlernen, sie wendete dabei einen fanatischen Fleiß an. Indem sie sich die Regeln der französischen Syntax einprägte, hoffte sie ihre Umgebung und die ganze ärgerliche Lebenslage zu vergessen.
Fräulein Schank ließ lange auf sich warten. Die Schülerinnen gaben sich schon der leisen Hoffnung hin, eine Krankheit oder ein Familienunglück ihrer Lehrerin würde den französischen Unterricht heute ausfallen lassen. »Nein, es ist der Lehrerkonferenz wegen, und die kann noch lange dauern.«
War das nicht Sallys Stimme? Rosa blickte auf. Richtig! Sally saß auf Fräulein Schanks Stuhl vor dem Pulte, die Wange auf die Hand gestützt, und schaute gütig auf ihre Kameradinnen herab, die sie eifrig umringten. Als sie Rosas Blick begegnete, lächelte sie verächtlich und wandte den Kopf ostentativ ab. Eine der Schülerinnen flüsterte Sally kichernd etwas zu, sie schüttelte aber den Kopf und sagte streng: »Lassen wir das jetzt.«
Das Wort »Lehrerkonferenz« hatte Rosa erschreckt. Es klang wie ein Unglück, das ihr drohte, und sie glaubte auf Sallys Gesicht schon die Schadenfreude zu lesen. Mit einem lauten, zornigen »Klapp« schlug sie ihre Grammatik zu, erhob sich, stellte sich an das Fenster, und die Arme über der Brust gekreuzt, schaute sie Sally böse an. Allerhand Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie wollte sich an diesen herzlosen Mädchen rächen, wollte ihnen imponieren; sie beschloss, eine große, pathetische Rede zu halten, Sally tödlich zu beleidigen – und dann schwieg sie doch.
»Unglaubliche Keckheit«, wandte sich Sally an ihre Nachbarin, »aber tut so, als wäre sie gar nicht da.«
Rosa hörte diese Worte ganz deutlich und erwiderte mit bebender Stimme:
»Ich glaube es schon, dir wäre es recht, wenn ich nicht auf der Welt wäre; wenn es überhaupt kein Mädchen gäbe, das nicht auf beiden Augen schielt.«
»Das ist zu arg!« rief Sally und schlug mit der Hand auf das Pult; weiter konnte sie nicht sprechen. Diese Beleidigung war so giftig und bitterböse, dass sie weit über die gewöhnlichen Zänkereien der Schulstube hinausging. »Die abscheuliche Person!« stöhnte Sally und begann zu weinen. Rosa aber wollte nun ihrer ganzen Entrüstung Luft machen. Die heiß in ihr aufsteigende Wut bereitete ihr eine Art Lust. »Lasst euch nur von Sally gegen mich aufhetzen«, fuhr sie fort, »ich mache mir nichts daraus; für mich existiert ihr schon lange nicht mehr. Geht, tanzt nach Sallys Pfeife! Ich brauche euch nicht. Meine Wege führen in ein anderes Reich.« Scheu blickten die Mädchen von der seltsam veränderten Rosa auf die weinende Sally. Sie fürchteten sich vor diesem rücksichtslosen Weiberhass, der sich plötzlich in die friedliche Schulstube eingeschlichen hatte. Rosa wollte noch mehr sagen. Der Zorn machte sie schön und beredt, das fühlte sie, aber Fräulein Schank erschien. Die Schülerinnen setzten sich auf die Bänke. Sally sah leidend und ergeben aus; zuweilen preßte sie die Hand auf das Herz, als litte sie dort unendlich. Als Fräulein Schank jedoch ihren elenden Zustand nicht bemerkte, erhob sie sich und bat, die Schule verlassen zu dürfen. »Gehen Sie«, sagte Fräulein Schank trocken. Sally raffte ihre Bücher zusammen und verließ das Gemach. Auf dem Weg zur Türe stützte sie sich mit zitternden Händen auf den Schultisch, um nicht zusammenzusinken, und das Öffnen der Türe machte ihr Schwierigkeiten, denn sie musste mit beiden Händen ihr Herz halten.
Der Unterricht nahm seinen regelrechten Verlauf. Fräulein Schank war ernst, aber ungewöhnlich milde. Von Rosa ward heute nichts verlangt. Den Kopf tief auf ihr Buch herabgebeugt, saß sie da und versank in ein unklares, wirres Träumen, und wenn irgend etwas sie aus ihrem Hinbrüten aufstörte, dann sah sie das altbekannte Schulzimmer seltsam an, und als der Unterricht zu Ende war, merkte Rosa es nicht und blieb sitzen; erst als ihr Name genannt ward, blickte sie auf. »Komm!« sagte Fräulein Schank feierlich, aber nicht böse. Rosa gehorchte. Draußen vor der Türe des Schulzimmers sagte Fräulein Schank milde: »Geh! Nimm deine Bücher. Dir ist heute nicht wohl. Geh nach Hause. Am Nachmittage komme ich zu euch. Behüte dich Gott!« Mit ihrer dürren Hand fuhr sie leicht über Rosas Haar. »Geh, mein Kind!« In dem allen lag etwas kummervoll Zärtliches, das Rosa die Tränen in die Augen trieb. Rosa kehrte in die Schulstube zurück, packte ruhig ihre Bücher zusammen, warf ihren Kameradinnen einen hochmütigen Blick zu und verließ die Schule; draußen aber ging es ihr, sie wusste es selbst nicht wie, durch den Kopf:
»Es ist wohl das letzte Mal, dass du drin gewesen bist?« Das rührte sie. Gefühlvoll legte sie die flache Hand auf die alte gelbe Türe, als wäre diese die Wange eines guten Freundes.
Auf der Straße fragte sich Rosa: Was nun? Nach Hause wollte sie nicht. In der engen Stube würde sie nicht Ruhe finden, das wusste sie, und dann sollte Agnes nicht wissen, dass Rosa wieder die Schule versäumte. Die alte Frau hatte sich in der letzten Zeit eine wunderlich vorwurfsvolle Art, Rosa anzuschauen, angewöhnt. Rosa entschied sich für den Stadtgarten; dort wollte sie ihre Lage überdenken. Sie zog die Augenbrauen zusammen, richtete sich stramm auf, wie jemand, der den Entschluss fasst, an eine schwere Arbeit zu gehen.
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