Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
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Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad

Автор: Джозеф Конрад

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027204113

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СКАЧАТЬ dieser Gewohnheit verholfen hatte und nun sein gewissenhaftes Verbleiben am häuslichen Herd doch so zwanglos vorübergehend erscheinen ließ. Zweimal erhob er sich beim Klang der heiseren Glocke, verschwand wortlos im Laden und kam schweigend zurück. Während dieser Abwesenheiten drängte sich Frau Verloc die Leere des Platzes an ihrer rechten Seite auf. Sie vermißte ihre Mutter schmerzlich, und ihr Blick wurde wie Stein; während Stevie aus demselben Grunde mit den Füßen scharrte, als wäre der Boden unter dem Tisch unerträglich heiß. So oft Herr Verloc auf seinen Platz zurückkehrte, wie die Verkörperung des Schweigens, vollzog sich ein feiner Wechsel in Frau Verlocs Blick, und Stevie hielt die Füße ruhig, aus tiefer Ehrfurcht vor dem Gatten seiner Schwester. Er warf ihm Blicke hochachtungsvollen Mitleids zu. Herr Verloc war betrübt. Seine Schwester Winnie hatte ihm (im Omnibus) eingeschärft, daß Herr Verloc zu Hause in tiefem Kummer sitze und nicht geärgert werden dürfte. Seines Vaters Jähzorn, die Reizbarkeit der Zimmerherren und Herrn Verlocs Neigung zu zügellosem Schmerz waren von jeher die Hauptantriebe für Stevies Selbstbeherrschung gewesen. Von diesen Gefühlen, die alle leicht hervorzurufen, aber nicht immer leicht zu verstehen waren, hatte das letztere die größte moralische Wirkung – denn Herr Verloc war gut. Diese Tatsache hatten Stevies Mutter und Schwester auf steinigem Grund verankert. Das war hinter Herrn Verlocs Rücken geschehen, aus Erwägungen heraus, die mit reiner Moral nicht unbedingt zu tun hatten. Und Herr Verloc wußte nichts davon. Es ist nicht mehr als gerecht, festzustellen, daß es ihm nicht bewußt war, in Stevies Augen als gut zu gelten. Und doch war es so. Er war sogar der einzige Mann, dem Stevie das Beiwort zugestand; denn die Zimmerherren waren zu vorübergehende und gleichgültige Erscheinungen gewesen, um ihm durch irgend etwas, außer vielleicht durch ihre Schuhe Eindruck zu machen; und was nun die Erziehungsmaßnahmen seines Vaters anbetraf, so hatten seine Mutter und seine Schwester nicht das Herz gehabt, dem Opfer einzureden, daß sie aus Güte stammten. Das wäre zu grausam gewesen. Und vielleicht sogar hätte Stevie ihnen gar nicht geglaubt. Bei Herrn Verloc nun stand Stevies Glauben nichts im Wege. Herr Verloc war ganz offenbar, wenn auch geheimnisvoll, gut, und der Kummer eines guten Mannes ist heilig.

      Stevie warf seinem Schwager Blicke hochachtungsvollen Mitleids zu. Herr Verloc war betrübt. Nie zuvor hatte Winnies Bruder so klar hinter das Geheimnis von diesen Mannes Güte zu blicken geglaubt. Es war ein verständlicher Schmerz. Und Stevie war selbst betrübt, sehr betrübt. Auf dieselbe Art. Und sobald seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt war, begann Stevie mit den Füßen zu scharren. Seine Gefühle pflegten sich stets in Bewegungen seiner Glieder zu äußern.

      »Halte deine Füße ruhig, mein Lieber«, sagte Frau Verloc mit zärtlichem Nachdruck; dann wandte sie sich an ihren Gatten und wußte mit meisterhaftem Feingefühl ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben: »Gehst du heute abend aus?« fragte sie.

      Die bloße Andeutung schien Herrn Verloc widerwärtig. Er schüttelte verdrießlich den Kopf, saß dann mit niedergeschlagenen Augen reglos da und sah eine volle Minute lang das Stück Käse auf seinem Teller an. Nach Ablauf dieser Zeit stand er auf und ging hinaus – ging geradenwegs hinaus, vom Klappern der Ladenglocke begleitet. So handelte er ganz unbewußt, nicht um unliebenswürdig zu sein, sondern aus unbezwinglicher Unruhe. Es hatte weiß Gott keinen Zweck, auszugehen. Nirgends in London konnte er finden, was er suchte. Aber er ging aus. Er führte seine trüben Gedanken durch dunkle Gassen, durch hellerleuchtete Straßen, in zwei Dielen hinein und wieder heraus, wie in dem schwachen Versuch, sich eine Nacht um die Ohren zu schlagen, und schließlich wieder zurück zu seinem bedrohten Heim, wo er sich erschöpft hinter den Ladentisch setzte; die Gedanken aber umdrängten ihn bissig, wie eine Meute hungriger Schweißhunde. Nachdem er das Haus geschlossen und das Gas abgedreht, nahm er sie mit sich hinauf – grausige Begleiter für einen Mann, der zu Bette will. Seine Frau war ihm vorausgegangen und bot ihm nun mit ihren üppigen Formen, die sich unter der Decke abzeichneten, das Haupt auf das Kissen und eine Hand unter die Wange gelegt, wie zur Zerstreuung, den Anblick rechtschaffener Schläfrigkeit, die aus ruhigem Gewissen kommt. Ihre großen Augen, weit geöffnet, hoben sich dunkel und träge von der schneeigen Weiße des Leinens ab. Sie bewegte sich nicht.

      Ihr seelisches Gleichgewicht hatte ihr die Erkenntnis vermittelt, daß man den Dingen nicht auf den Grund gehen dürfe. Dies machte sie zu ihrem Leitsatz im Leben. Dennoch hatte sie sich durch Herrn Verlocs Schweigsamkeit seit einigen Tagen schwer bedrückt gefühlt. Sie ging ihr tatsächlich auf die Nerven. Nun sagte sie, während sie so still dalag:

      »Du wirst dich erkälten, wenn du so in Socken herumgehst.«

      Dieser Ausspruch, eingegeben von der Sorge der Gattin und der Klugheit der Frau, traf Herrn Verloc unvorbereitet. Er hatte seine Stiefel unten gelassen, hatte aber vergessen, die Pantoffeln anzulegen und war im Schlafzimmer auf leisen Tatzen, wie ein Bär im Käfig, herumgewandelt. Beim Klang der Stimme seiner Gattin hielt er inne und stierte sie mit einem traumverlorenen, ausdruckslosen Blick so lange an, daß Frau Verloc ihre Glieder unter den Bettüchern leicht rührte. Nur ihr dunkles Haupt, tief in das weiße Kissen versenkt, blieb unbewegt, mit der einen Hand unter ihrer Wange, und den dunklen, großen, reglosen Augen.

      Unter dem ausdruckslosen Blick ihres Gatten und bei dem Gedanken an ihrer Mutter leeres Zimmer jenseits des Flurs sprang sie bitter das Gefühl von Einsamkeit an. Nie zuvor war sie von ihrer Mutter getrennt gewesen. Sie hatten treu zueinander gestanden. Das empfand sie jetzt und sagte sich, daß die Mutter nun fort war – fort für immer. Frau Verloc machte sich nichts vor. Allerdings blieb Stevie. Und sie sagte:

      »Mutter hat ihren Willen gehabt. Ich kann keinen Sinn darin finden. Sicherlich konnte sie doch nicht glauben, daß du sie über hättest. Es ist ganz verrückt, uns so zu verlassen.«

      Herr Verloc war nicht belesen; sein Vorrat an Bildern war beschränkt, doch fügten sich hier die Umstände derart ineinander, daß er zwangsweise an Ratten denken mußte, die ein sinkendes Schiff verlassen. Fast hätte er das auch ausgesprochen. Aber er war mißtrauisch und verbittert geworden. War es möglich, daß die alte Frau eine so ausgezeichnete Nase hatte? Doch lag die Haltlosigkeit eines solchen Verdachtes auf der Hand, und Herr Verloc hielt den Mund. Nicht ganz, heißt das. Er murmelte gewichtig:

      »Vielleicht ist es gerade recht so.«

      Er begann sich auszukleiden. Frau Verloc lag ganz ruhig, ihre Augen behielten ihren träumerischen, ruhigen Blick. Auch ihr Herz schien für den Bruchteil einer Sekunde stille zu stehn. In dieser Nacht war sie nicht ganz »sie selbst«, wie man sagt, und es drängte sich ihr die Erkenntnis auf, daß ein einfacher Satz mehrere, größtenteils unangenehme Bedeutungen haben könne. Warum war es gerade recht so und wieso? Doch erlaubte sie sich nicht, müßigem Grübeln nachzuhängen. Sie fühlte sich eher bestärkt in dem Glauben, daß die Dinge es nicht vertragen, wenn man ihnen auf den Grund geht. Schlau und geschickt auf ihre Art, brachte sie unverweilt Stevie in den Vordergrund, da bei ihrer Natur ein vorherrschender Gedanke die unbeirrbare Kraft eines Triebes anzunehmen pflegte.

      »Ich weiß tatsächlich nicht, was ich tun muß, um den Jungen während der ersten traurigen Tage aufzuheitern. Er wird sich von früh bis abends quälen, bevor er sich daran gewöhnt, daß Mutter fort ist. Und er ist ein so guter Junge. Ich könnte ohne ihn gar nicht zurecht kommen.«

      Herr Verloc fuhr fort sich auszukleiden, mit der starren Versenkung eines Mannes, der sich in der Einsamkeit einer weiten, hoffnungslosen Wüste auszieht. Denn so ungastlich bot sich die Erde, unser aller gemeinsames Erbe, dem Geiste des Herrn Verloc dar. Innen und draußen war alles so still, daß das verlorene Ticken der Ganguhr sich in das Zimmer stahl, als suche es Gesellschaft.

      Herr Verloc legte sich auf seiner Seite ins Bett und blieb stumm und stolz hinter Frau Verlocs Rücken. Seine dicken Arme lagen verlassen auf der Decke wie gesenkte Waffen, wie hingeworfene Werkzeuge. In diesem Augenblick war er nur um Haaresbreite davon entfernt, seiner Frau sein ganzes Herz auszuschütten. Der Zeitpunkt schien günstig. Aus den Augenwinkeln sah er ihre mächtigen Schultern im weißen Gewand, ihren Hinterkopf mit den drei Zöpfen, die für die Nacht mit schwarzen Maschen aufgesteckt waren. Und СКАЧАТЬ