Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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»Armes Vieh!«
Stevie blieb unvermittelt stehen und zerrte an seiner Schwester. »Arm, arm!« stieß er inbrünstig hervor. »Kutscher ist auch arm, hat mir’s selbst gesagt.«
Der Anblick der elenden, einsamen Mähre überkam ihn. Ohne Rücksicht auf das Drängen seiner Schwester wollte er stehen bleiben und mühte sich, seiner neuerschlossenen Erkenntnis über die Verbindung von menschlichem und Pferdeelend Ausdruck zu geben. Doch das war sehr schwer. »Armes Vieh, arme Leute«, war alles, was er immer wieder herausbrachte. Das erschien ihm nicht eindringlich genug, und er steigerte sich bis zu einem wütend hervorgestoßenen »Schande!« Stevie war kein Meister des Worts, und seine Gedanken entbehrten vielleicht eben darum der Klarheit und Genauigkeit. Sein Gefühl war dafür umso umfassender und tiefer. Das kleine Wort drückte all die Entrüstung und den Abscheu aus, die er bei der Vorstellung empfand, daß ein elendes Wesen sich von der Qual eines anderen ernährte – bei dem Gedanken an den armen Kutscher, der sein armes Pferd schlug, sozusagen im Namen seiner armen Kinder zu Hause. Und Stevie wußte, wie es tut, geschlagen zu werden. Er wußte es aus Erfahrung. Es war eine schlechte Welt; schlecht, schlecht!
Frau Verloc, seine einzige Schwester, Wärterin und Gönnerin, reichte an dieses Maß von Einsicht nicht hinan. Auch hatte sie die Wunderkraft von des Kutschers Beredsamkeit nicht erfahren. Der tiefere Sinn des Wortes »Schande« blieb ihr verborgen, und so sagte sie sanftmütig:
»Komm, Stevie, das wirst du nicht ändern.«
Der gelehrige Stevie ging weiter, doch jetzt ohne Stolz, strauchelnd; dabei murmelte er halbe Worte vor sich hin, Worte, die vielleicht einen Sinn gegeben hätten, wären sie nicht aus Hälften zusammengesetzt gewesen, die nicht zusammengehörten. Es war, als versuche er, seinen ganzen Wortschatz durchzugehen, um einen passenden Ausdruck für seine Gemütsbewegung zu finden. Das gelang ihm schließlich auch. Er blieb stehen und rief aus:
»Schlechte Welt für arme Leute!«
Sobald er diesen Gedanken ausgesprochen hatte, merkte er, daß er ihm in allen Folgerungen schon vertraut war. Das bestärkte ihn noch völlig in seiner Überzeugung, vermehrte aber auch seine Entrüstung. Irgend jemand, so empfand er, mußte dafür gezüchtigt werden – mit größter Strenge gezüchtigt. Da er von Natur nicht zweifelsüchtig, sondern durchaus tugendhaft war, so kannte seine Leidenschaft zum Guten keine Hemmungen.
»Hundsföttisch«, fügte er scharf hinzu.
Für Frau Verloc unterlag es keinem Zweifel, daß er sehr aufgeregt war.
»Das kann niemand ändern«, sagte sie. »Komm weiter. Gibst du so auf mich acht?«
Stevie nahm gehorsam gleichen Schritt. Er war stolz darauf, ein guter Bruder zu sein. Seine Moral, die sehr empfindlich war, machte ihm das zur Pflicht. Dennoch schmerzte ihn diese Feststellung seiner Schwester Winnie – die doch gut war. Das kann niemand ändern! Er ging finster vor sich hin, wurde aber plötzlich heiter. Wie wir anderen auch fand er mitunter in dem Kummer über die Welträtsel Trost in dem Vertrauen auf die Macht der gesellschaftlichen Ordnung auf dieser Erde.
»Polizei«, meinte er zuversichtlich.
»Die Polizei ist nicht dafür da«, gab Frau Verloc flüchtig zurück und wollte weiter.
Stevies Gesicht zog sich beträchtlich in die Länge. Er dachte nach. Je tiefer er dachte, desto tiefer hing auch sein Unterkiefer nieder. Mit dem Ausdruck hoffnungsloser Unfähigkeit stellte er endlich sein Nachdenken ein.
»Nicht dazu?« murmelte er, bei aller Fügsamkeit überrascht. »Nicht dazu?« Er hatte sich ganz für sich von der großstädtischen Polizei die Auffassung gebildet, sie sei eine Art Wohlfahrtseinrichtung zur Unterdrückung des Bösen. Besonders die Vorstellung von Wohlwollen war ihm unlöslich verknüpft mit der von der Machtvollkommenheit der Männer in Blau. Er hatte alle Polizisten zärtlich geliebt, mit unerschütterlichem Zutrauen. Und nun war er betrübt. Er ärgerte sich sogar bei dem Verdacht, die Angehörigen der Polizeimacht könnten doppelzüngig sein. Denn Stevie selbst war frei und offenherzig wie der Tag. Warum stellten sie sich denn so an? Ungleich seiner Schwester Winnie, die sich an der Oberfläche hielt, wünschte er den Dingen auf den Grund zu gehen. Er fuhr in seiner Untersuchung kampflustig fort:
»Wozu sind sie denn da, Winn? Wozu denn eigentlich? Sag mir’s!«
Winnie liebte keine Auseinandersetzungen. Da sie aber fürchtete, Stevie möchte im ersten Schmerz um seine Mutter einen der Anfälle tiefster Niedergeschlagenheit haben, so wollte sie das Gespräch nicht kurz abbrechen. Zwar lag ihr alle Ironie völlig ferne, doch antwortete sie in einem Tone, der vielleicht bei der Gattin des Herrn Verloc, Vertrauensmannes des Roten Zentralkomitees, persönlichen Freundes gewisser Anarchisten und Stimmführer der sozialen Revolution nicht überraschen konnte:
»Du weißt nicht, wozu die Polizei da ist, Stevie? Die ist dazu da, damit die, die nichts haben, denen, die etwas haben, nichts wegnehmen können!«
Sie vermied das Wort »stehlen«, weil es ihren Bruder immer traurig machte. Denn Stevie war grundehrlich. Gewisse einfache Grundsätze waren ihm so nachdrücklich beigebracht worden (eben wegen seiner Besonderheit), daß die bloße Erwähnung gewisser Übertretungen ihn mit Schreck erfüllte. Er hatte sich immer durch Worte leicht beeinflussen lassen. Das war auch jetzt gründlich der Fall, und sein Verständnis war überraschend schnell:
»Wie,« fragte er sofort, »nicht einmal, wenn sie hungrig sind? Müssen sie dann nicht?«
Die beiden waren stehengeblieben.
»Nicht einmal dann«, sagte Frau Verloc mit dem Gleichmut eines Gemüts, das sich die Verteilung der irdischen Güter nicht nahe gehen läßt, und spähte dabei die Straße hinunter nach einem Omnibus der gewünschten Farbe. »Gewiß nicht. Aber wozu darüber reden? Du bist nicht einmal hungrig.«
Sie warf einen raschen Blick auf den Jungen an ihrer Seite, der wie ein junger Mann aussah. Er war so liebenswürdig, anziehend, zärtlich und nur ein wenig, ein ganz klein wenig eigen. Sie konnte ihn nicht anders sehen, er war eng verbunden mit dem, was in ihrem würzelosen Leben von dem Salz der Leidenschaft war – mit leidenschaftlicher Entrüstung, mit Mut, Mitleid und sogar Selbstaufopferung. Sie fügte nicht hinzu: »und wirst es auch nicht sein, solange ich lebe.« Und doch hätte sie das recht gut tun können, denn sie hatte wirksame Schritte zu diesem Zwecke getan. Herr Verloc war ein ausgezeichneter Gatte; es war ihre aufrichtige Überzeugung, daß niemand umhin konnte, den Jungen gerne zu haben. Plötzlich rief sie aus:
»Schnell, Stevie, halt den grünen Omnibus an!« Und Stevie, bebend vor Wichtigkeit, mit seiner Schwester Winnie an einem Arm, schwenkte den andern hoch über seinem Kopf, dem ankommenden Omnibus entgegen, mit vollkommenem Erfolg.
Etwa eine Stunde später erhob Herr Verloc hinter dem Ladentisch seine Augen von einer Zeitung, in der er gelesen oder in die er doch hineingesehen hatte. Und während das Klappern der Türglocke verklang, sah er Winnie, seine Gattin, auf dem Weg nach oben den Laden durchschreiten, von Stevie, seinem Schwager, gefolgt. Der Anblick seiner Gattin war Herrn Verloc erfreulich. Dies gehörte zu seinen Eigenheiten. Dagegen kam ihm die Erscheinung seines Schwagers nicht zum Bewußtsein, auf Grund der krankhaften Nachdenklichkeit, die sich neuerdings wie ein Schleier zwischen Herrn Verloc und die dingliche Welt geschoben hatte. Er sah seiner Gattin starr und stumm nach, als wäre sie ein Geist. Seine Stimme für den Hausgebrauch war gedämpft und milde, jetzt aber war sie gar nicht zu hören, auch nicht beim Abendessen, zu dem ihn seine Gattin in der üblichen, kurzen Art rief: »Adolf.« Er setzte sich ohne wahre Überzeugung zum СКАЧАТЬ