Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
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Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad

Автор: Джозеф Конрад

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027204113

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СКАЧАТЬ Schwester war und als Frau von größter Selbstbeherrschung. Beim Gedanken an Winnies Schwesterliebe hielt ihre Kühle nicht stand. Sie nahm dieses Gefühl von dem Gesetz der Vergänglichkeit aus, dem alle menschlichen und einige göttlichen Dinge unterworfen waren. Sie konnte nicht anders; das Gegenteil wäre ihr zu schrecklich gewesen. In der Betrachtung der ehelichen Verhältnisse ihrer Tochter aber unterdrückte sie entschlossen alle Neigung zur Schönfärberei. Mit kalter Vernunft sagte sie sich, daß Herrn Verlocs Güte umso länger bestehen bleiben würde, je weniger man sie in Anspruch nähme. Dieser ausgezeichnete Mann liebte seine Frau natürlich, würde es aber zweifellos vorziehen, möglichst wenige ihrer Verwandten bei sich zu behalten, um die Auswirkung dieses Gefühls nicht zu hemmen. Es war besser, wenn diese Wirkung auf den armen Stevie beschränkt blieb, und die heldenmütige alte Frau entschloß sich, von ihren Kindern wegzugehen, aus einem Übermaß an Liebe und Lebensklugheit.

      Diese Lebensklugheit gipfelte darin (Frau Verlocs Mutter war gewisser Feinheiten sehr wohl fähig), daß Stevies moralische Ansprüche durch ihren Weggang an Kraft gewinnen mußten. Der arme Junge – ein guter, verwendbarer Junge, wenn auch ein bißchen eigen – hatte keine hinlänglich gefestigte Stellung. Er war zugleich mit seiner Mutter mitgenommen worden, sozusagen mit der Einrichtung der Belgravia-Pension, als ob er ausschließlich zu seiner Mutter gehörte. Was wird sein, fragte sie sich (denn Frau Verlocs Mutter hatte Einbildungskraft), wenn ich sterbe? – Und wenn sie sich diese Frage vorlegte, so geschah es mit Ängsten. Es war ja auch furchtbar, daß sie dann niemals wissen würde, was mit dem armen Jungen geschähe. Vermachte sie ihn aber solcherart seiner Schwester, indem sie wegging, so verschaffte sie ihm den Vorzug völliger Abhängigkeit. Dadurch bekam der bedenkliche Heldenmut von Frau Verlocs Mutter seine Weihe. Ihre Selbstaufgabe hatte tatsächlich nur den Zweck, ihrem Sohne eine lebenslängliche Versorgung zu sichern. Andere Leute bringen zu einem solchen Zweck Geldopfer, sie brachte dieses. Es war das einzig mögliche. Und überdies würde sie seine Wirkung beobachten können. Wohl oder übel würde sie so der furchtbaren Ungewißheit auf dem Totenbett entgehen. Aber es war hart, hart, grausam hart.

      Die Droschke rasselte, klirrte, rumpelte. Besonders das letztere in einem so ungewöhnlichen und großartigen Maße, daß es den Sinn für die Vorwärtsbewegung übertäubte; es erzeugte das Gefühl, daß man in einer mittelalterlichen, feststehenden Folterbank eingezwängt sei, oder in einem der neumodischen Apparate zur Behebung von Verdauungsstörungen. Alles war so traurig; und als Frau Verlocs Mutter die Stimme erhob, da klang es wie eine Wehklage.

      »Ich weiß, meine Liebe, du wirst mich besuchen kommen, so oft es deine Zeit erlaubt, nicht wahr?«

      »Natürlich«, gab Winnie kurz zurück und blickte starr geradeaus.

      Die Droschke rumpelte an einem verräucherten, schmierigen Laden vorbei, wo es nach Gas und Bratfisch roch.

      Wieder erhob sich die klagende Stimme:

      »Und, meine Liebe, ich muß den armen Jungen jeden Sonntag sehen. Es wird ihm doch nichts ausmachen, den Tag mit seiner alten Mutter zu verbringen?«

      Winnie schrie unbewegt:

      »Ausmachen? Ich dächte nicht. Der arme Junge wird Sie sehr vermissen. Ich wollte, Sie hätten ein wenig daran gedacht, Mutter!«

      Nicht daran gedacht! Die heldenmütige Frau schluckte an einem würgenden Brocken, der wie eine Billardkugel ihr aus der Kehle zu springen drohte. Winnie saß eine Weile stumm und schmollend da und warf dann schnippisch in einem bei ihr ungewöhnlichen Tone hin: »Er wird mir in der ersten Zeit nicht schlecht zu schaffen machen, er wird es schon so treiben –«

      »Was du auch tust, laß ihn nur nicht deinem Manne lästig werden, meine Liebe.«

      So sprachen sie vertraulich die neue Sachlage durch. Und die Droschke rumpelte weiter. Frau Verlocs Mutter äußerte einige Zweifel. Durfte man Stevie den ganzen Weg alleine gehen lassen? Winnie betonte, daß er nun weit weniger zerstreut sei; darin stimmten sie überein. Es war unleugbar. Weit weniger, fast gar nicht. Sie schrien einander durch das Getöse möglichst liebreich zu. Doch plötzlich brach die mütterliche Sorge nochmals durch. Er mußte zwei Omnibusse nehmen und dazu ein Stück gehen. Das war zu schwierig. Die alte Frau gab sich dem Schmerz und Kummer hin.

      Winnie starrte voraus.

      »Regen Sie sich nur nicht auf, Mutter. Natürlich müssen Sie ihn sehen.«

      »Nein, meine Liebe, ich will versuchen, ob es ohne das geht? Du hast ja nicht die Zeit, ihn zu begleiten, und wenn er dann wieder zerstreut ist und den Weg verliert und irgend jemand spricht ihn schroff an, dann vergißt er vielleicht Namen und Adresse und bleibt Tage und Tage lang verloren –«

      Die Vorstellung eines Krüppelheims für den armen Stevie – wenn auch nur für die Dauer der Untersuchung – drückte ihr das Herz ab. Denn sie war eine stolze Frau. Winnies Blick war scharf und nachdrücklich geworden.

      »Ich kann ihn nicht jede Woche selbst zu Ihnen bringen,« rief sie, »aber sorgen Sie sich nicht, Mutter, ich will schon trachten, daß er nicht für lange verloren geht.«

      Sie fühlten eine eigene Erschütterung; durch die klappernden Fenster sah man etwas wie einen Ziegelhaufen; das furchtbare Rumpeln und Klirren hörte mit einem Schlage auf, und die beiden Frauen waren bestürzt. Was war geschehen? Sie saßen reglos, erschreckt in der tiefen Stille, bis der Schlag geöffnet wurde und ein rauhes, krampfhaftes Flüstern sich hören ließ:

      »Wir sind da.«

      Eine Reihe kleiner Giebelhäuser, jedes mit einem trübe erleuchteten Fenster im Erdgeschoß, stand rings um die dunkle Fläche eines grasbewachsenen Platzes, der mit Büschen bepflanzt und durch ein Gitter von der Straße mit ihrem Lichtergewirr und Verkehrslärm getrennt war.

      Vor der Tür eines dieser armseligen Häuschen – des einen, das kein Licht im Erdgeschoß zeigte – hatte die Droschke gehalten. Frau Verlocs Mutter stieg als erste aus, rücklings, mit einem Schlüssel in der Hand. Winnie blieb am Randstein stehen, um den Kutscher zu bezahlen. Stevie half zuerst eine Menge kleiner Pakete ins Haus tragen, kam dann heraus und blieb unter einer Laterne stehen, die dem Stift gehörte. Der Kutscher blickte auf die Silbermünzen, die in seiner grimmen Riesentatze ganz klein und wie ein Sinnbild des elenden Lohnes wirkten, den ein Menschenkind während der kurzen Zeit seines Erdenwallens für alle Mühe und Plage zu erwarten hat.

      Er war anständig bezahlt worden – mit vier Schillingstücken –, die er nun unbeweglich betrachtete, als enthielten sie die überraschende Lösung eines traurigen Problems. Die langsame Unterbringung dieses Schatzes in seiner Innentasche erforderte umständliches Herumwühlen in den Tiefen schäbiger Gewänder. Der Mann war eckig von Gestalt und wenig schmiegsam. Stevie, schmächtig, die Schultern ein wenig hochgezogen, die Hände tief in den Taschen seines warmen Überrocks vergraben, stand auf dem Bürgersteig und gaffte.

      Der Kutscher unterbrach seine planvollen Bemühungen, wie von einer nebelhaften Erinnerung gepackt.

      »Oh, da bist du ja, mein Junge«, zischelte er. »Du wirst ihn wiedererkennen, nicht wahr?«

      Stevie gaffte das Pferd an, dessen Hinterteil infolge seiner Magerkeit unglaublich steil erschien. Der kurze, steife Schwanz schien in herzlosem Scherz hineingesteckt; und am anderen Ende bog sich der dünne, flache Hals, wie ein mit altem Pferdefell bezogenes Brett, tief zu Boden unter dem Gewicht des ungeheuren, knochigen Schädels. Die Ohren hingen nachlässig in verschiedenen Winkeln herunter. Die ganze grausige Mißgestalt dieses stummen Erdenpilgers, von Rippen und Rückgrat scharf durchzogen, ragte in die dumpfe Abendstille.

      Der Kutscher tupfte mit dem Eisenhaken, der aus seinem ausgefransten, schmierigen Ärmel hervorragte, СКАЧАТЬ