Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
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Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad

Автор: Джозеф Конрад

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788027204113

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СКАЧАТЬ Uhr in der Frühe hinter dem Roß da zu sitzen?«

      Stevie sah geistesabwesend in die funkelnden, kleinen Augen mit den rotgeränderten Lidern.

      »Er ist nicht lahm,« fuhr der andere in scharfem Flüstertone fort, »er hat keine offenen Stellen auf sich. Da steht er. Könnte es dir Spaß machen – – –«

      Seine ausgeschriene, klanglose Stimme gab seiner Äußerung den Klang tiefsten Geheimnisses. In Stevies leerem Blick schimmerte Furcht auf.

      »Du kannst gut schauen! Bis drei und vier Uhr in der Frühe, kalt und hungrig, immer nach Fahrgästen ausschauen und nach einem Schluck zu trinken.«

      Seine lustigen, roten Wangen starrten von weißen Stoppeln, und wie Virgils Silen, mit den Flecken des Rebensafts im Gesicht, mit sizilischen Hirten von den olympischen Göttern sprach, so sprach nun er zu Stevie von der Häuslichkeit und dem Leben von Männern, deren Leiden groß sind, und die nicht unbedingt auf Unsterblichkeit rechnen können.

      »Ich bin eine Nachtdroschke, das bin ich«, flüsterte er, zwischen Ruhmredigkeit und Verzweiflung. »Ich muß nehmen, was ich kriege. Ich habe ein Weib mit vier Kindern zu Hause.«

      Die Ungeheuerlichkeit dieses Bekenntnisses zur Vaterschaft schien die Welt zu verblüffen. Ein Schweigen fiel ein. Die Flanken des alten Gauls, der für den apokalyptischen Reiter gemacht schien, schickten den Dampf hinauf in den Lichtkreis der wohltätigen Gaslaterne. Der Kutscher grunzte und fügte in geheimnisvollem Flüstertone hinzu:

      »Man hat’s nicht leicht in dieser Welt!«

      Stevies Gesicht hatte schon einige Zeit gezuckt; nun machte er seinen Gefühlen wie gewöhnlich in knappster Form Luft.

      »Schlecht! Schlecht!« Sein Blick blieb starr auf die Rippen des Pferdes gerichtet, düster und eindringlich, als fürchtete er sich, ringsum die Schlechtigkeit der Welt zu treffen. Sein schmächtiger Wuchs, die rosigen Lippen und die blasse, reine Haut gaben ihm das Aussehen eines zarten Knaben, trotz dem goldigen Flaum auf den Wangen. In seinem Gaffen lag Furchtsamkeit, wie bei einem kleinen Kinde. Der Kutscher, kurz und breit, maß ihn mit dem Blick seiner wilden, kleinen Augen, die in einer wasserhellen Säure zu schwimmen schienen.

      »Hart für Pferde, aber noch verdammt härter für arme Kerle wie mich«, ächzte er, gerade noch vernehmlich.

      »Arm, arm!« stammelte Stevie, und stieß im Übermaß seines Mitleids die Hände tief in die Taschen. Er konnte nichts sagen; denn seine Zärtlichkeit für alle Mühseligen und Beladenen, seine Sehnsucht, die Pferde glücklich und den Kutscher glücklich zu machen, hatte sich bis zu dem lächerlichen Wunsch gesteigert, sie mit in sein Bett zu nehmen. Und er wußte, daß das unmöglich war. Denn Stevie war nicht verrückt. Es war sozusagen eine symbolische Sehnsucht. Dabei aber doch sehr deutlich, da sie aus der Erfahrung kam, der Mutter der Weisheit. Wenn er nämlich als Kind in einem dunklen Winkel gehockt hatte, erschreckt, bedrückt, gequält von dem schwarzen, schwarzen Elend in seinem Innern, da war oft seine Schwester Winnie gekommen und hatte ihn mit in ihr Bett genommen, wie in einen Hafen himmlischen Friedens. Stevie konnte reine Tatsachen vergessen, wie zum Beispiel seinen Namen und seine Adresse; für Empfindungen aber hatte er ein treues Gedächtnis. Voll Mitleid in ein Bett mitgenommen zu werden, war das letzte Heilmittel; es hatte nur den einzigen Nachteil, daß es sich nicht in größerem Maßstabe anwenden ließ. Das machte er sich völlig klar, während er den Kutscher ansah. Denn Stevie war nicht verrückt.

      Der Kutscher fuhr in seinen gemächlichen Vorbereitungen fort, als wäre Stevie gar nicht dagewesen. Er traf Anstalten, auf den Bock zu klettern, stand aber im letzten Augenblick davon ab, unter dem Druck irgendeines dunklen Gefühls, vielleicht eines Abscheus vor dem Kutscherberuf. Er trat vielmehr zu seinem reglosen Arbeitsgefährten, beugte sich nach den Zügeln und hob mit einer Bewegung seines rechten Arms, wie um seine Kraft zu zeigen, das große, müde Haupt bis zu Schulterhöhe.

      »Komm«, flüsterte er leise.

      Dann führte er hinkend das Gefährt davon. Es lag etwas wie Kasteiung in diesem Aufbruch; der Kies des Fahrwegs knirschte unter den langsamen Rädern, die lahmen Beine des Pferdes bewegten sich mit asketischer Entschlossenheit aus dem Lichtkreis weg in die Finsternis des Platzes, der undeutlich von der Reihe spitzer Dächer und schwach erleuchteter Fenster der kleinen Stiftshäuser begrenzt war. Das klagende Knirschen des Kieses wanderte langsam rund um den Fahrweg. Zwischen den Laternen des Einfahrttores tauchte das Gefährt noch einmal im hellen Lichte auf: der kurze, dicke Mann, der, emsig hinkend, den Pferdekopf in der Faust hochhielt; das lahme Tier, das mit steifer, hilfloser Würde dahinstelzte; der dunkle, niedere Kasten auf Rädern, der lächerlich hinterdrein rollte, sozusagen watschelte. Sie wandten sich nach links. Dort in der Straße, fünfzig Schritt von dem Einfahrtstor, war eine Schänke.

      Stevie blieb allein bei dem Laternenpfahl und stierte, die Hände tief in den Taschen, verloren vor sich hin. Auf dem Grund dieser Taschen waren seine elenden, schwachen Hände zornig und hart zu Fäusten geballt. Alles, was mittelbar oder unmittelbar an seine krankhafte Angst vor Schmerz rührte, machte Stevie zuletzt böswillig. Eine großmütige Entrüstung schwellte seine kümmerliche Brust bis zum Bersten und brachte seine unschuldigen Augen zum Schielen. Äußerst weise in der Erkenntnis seiner eigenen Machtlosigkeit, war Stevie doch nicht weise genug, um seine Leidenschaften bändigen zu können. Die Zartheit seines umfassenden Mitgefühls hatte zwei Seiten, die so unlöslich verbunden und verschmolzen waren, wie die beiden Seiten einer Medaille. Der Schmerz maßlosen Mitgefühls wurde durch den andern einer unschuldigen, doch unbarmherzigen Wut abgelöst. Da diese beiden Seelenzustände sich in denselben Anzeichen leichter körperlicher Erregung äußerten, so pflegte seine Schwester Winnie diese Erregung zu besänftigen, ohne je an ihre Zwiespältigkeit zu denken. Frau Verloc verschwendete keinen Augenblick dieses kurzwährenden Daseins auf die Suche nach gründlicher Erkenntnis. Dies ist eine Art von Sparsamkeit, die allen Anschein und auch einige Vorteile der Klugheit hat. Natürlich kann es gut für jemand sein, nicht zu viel zu wissen. Und diese Ansicht verträgt sich sehr gut mit natürlicher Trägheit.

      An diesem Abend, an dem Frau Verlocs Mutter endgültig von ihren Kindern und damit wohl auch vom Leben Abschied genommen hatte, machte sich Winnie Verloc keine weiteren Gedanken über den Seelenzustand ihres Bruders. Der arme Junge war aufgeregt, ganz natürlich. Nachdem sie auf der Schwelle ihrer alten Mutter nochmals versichert hatte, daß sie ihren Bruder schon davor bewahren wollte, sich auf seinen kindlichen Pilgerfahrten für länger zu verlieren, nahm sie Stevies Arm, um wegzugehen. Stevie murmelte nicht einmal vor sich hin, aber mit dem Feingefühl, das die Schwesterliebe seit frühester Kindheit in ihr entwickelt hatte, merkte sie, daß der Junge wirklich ungewöhnlich erregt war. Während sie unter dem Vorwand, sich auf ihn zu lehnen, seinen Arm fest umspannte, dachte sie über einige Worte nach, die für den Anlaß passen konnten.

      »Jetzt, Stevie, mußt du dich bei den Kreuzungen gut nach mir umsehen und zuerst in den Omnibus steigen, wie ein guter Bruder.«

      Dieser Anruf seines männlichen Schutzes wurde von Stevie mit gewohnter Gelehrigkeit aufgenommen. Er schmeichelte ihm. Er hob den Kopf und streckte die Brust heraus.

      »Nicht nervös sein, Winnie; mußt nicht nervös sein! Den Omnibus kriegen wir schon«, stammelte er in einem Tone, in dem sich die Furchtsamkeit des Kindes und die Entschlossenheit des Mannes seltsam mischten. Er schritt furchtlos vorwärts, mit der Frau an seinem Arm, ließ aber die Unterlippe schlaff hängen. Trotzdem erschien in der großen Straße, deren ödes Pflaster, wie zum Spott, in eine Lichtflut getaucht war, ihre Ähnlichkeit miteinander so auffallend, daß zufällig Vorübergehende davon betroffen waren.

      Vor der Türe des Wirtshauses an der Ecke, wo die ausgestreute Lichtfülle an Irrsinn grenzte, stand eine vierrädrige Droschke am Randstein, mit leerem Kutscherbock, als hätte man sie als gänzlich unnütz in die Gosse geworfen. СКАЧАТЬ