Название: Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204113
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Die Nachricht kam so unerwartet, daß Frau Verloc, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit bei einer Anrede, die Hausarbeit unterbrach. Sie staubte die Einrichtung im Wohnzimmer hinter dem Laden ab. Nun wandte sie sich ihrer Mutter zu: »Was in aller Welt wollen Sie nur damit?« rief sie in entrüsteter Verwunderung.
Der Schlag mußte hart gewesen sein, um sie von dem unbeteiligten Gleichmut vor fertigen Tatsachen abzubringen, der im Leben ihre Stärke und ihr Schutz war.
»Hatten Sie’s hier nicht bequem genug?« Sie hatte sich zu dieser Frage verleiten lassen, gewann aber im nächsten Augenblick ihre Haltung wieder und fuhr mit dem Abstauben fort, während die alte Frau in dumpfem Kummer dasaß, mit ihrer staubigen weißen Haube und der glanzlosen schwarzen Perücke.
Winnie war mit dem Stuhl fertig und führte nun den Wischer über die Mahagonirückwand des Roßhaarsofas, auf dem Herr Verloc in Hut und Überrock sich der Ruhe zu ergeben liebte. Sie war ganz bei ihrer Arbeit, gestattete sich aber doch noch eine Frage:
»Wie haben Sie das nur fertig gebracht, Mutter?«
Diese Neugier war entschuldbar, da sie sich nicht auf die Innenseite der Dinge bezog, die Frau Verloc grundsätzlich übersah. Die Frage bezog sich lediglich auf die Methoden. Die alte Frau griff sie freudig auf, da dadurch ein Gegenstand berührt wurde, den man ganz aufrichtig besprechen konnte.
Sie beehrte ihre Tochter mit einer erschöpfenden Antwort, voll von Namen, und mit Randbemerkungen geschmückt über die Schäden der Zeit, wie sie an menschlichen Gesichtern zu beobachten waren. Die Namen waren größtenteils die konzessionierter Gastwirte – »des armen Papas Freunde, meine Liebe«. Mit besonderer Wärme verbreitete sie sich über die gütige Herablassung eines großen Brauers, eines Barons und Mitglieds des Parlaments, des Vorsitzenden des Stiftungsausschusses. Diese Wärme rührte daher, daß es ihr vergönnt worden war, auf Verabredung mit seinem Privatsekretär zusammenzutreffen – »ein sehr höflicher Gentleman, ganz in Schwarz, mit angenehmer trauriger Stimme, aber so sehr, sehr mager und ruhig. Er war wie ein Schatten, meine Liebe.«
Winnie fuhr mit dem Abstauben fort, bis die Geschichte zu Ende erzählt war, und ging dann aus dem Wohnzimmer in die Küche hinunter (über zwei Stufen), in ihrer gewöhnlichen Art, ohne jede Entgegnung.
Frau Verlocs Mutter vergoß einige Tränen, zum Zeichen der Freude über ihrer Tochter Gleichmut in dieser furchtbaren Sache und ließ dann ihrer Schlauheit freies Spiel in Bezug auf die Einrichtung, die ja ihr gehörte; manchmal wünschte sie, es wäre nicht der Fall gewesen. Heldentum ist gut und schön, doch gibt es Umstände, unter denen die Verfügung über ein paar Tische und Stühle, Messingbett usf. weitergehende, unheilvolle Folgen nach sich ziehen kann. Sie brauchte einige Stücke für sich selbst, denn die Stiftung, die sie nach vielem Quängeln an ihre barmherzige Brust genommen hatte, gab den Opfern ihrer Wohltätigkeit nichts, als den blanken Fußboden und die schlecht tapezierten Wände. Es blieb unbemerkt, wie feinsinnig sie die wenigst kostbaren und am meisten abgenützten Sachen auswählte, denn Winnies Lebensanschauung verbot ihr, die Innenseite der Geschehnisse zur Kenntnis zu nehmen; sie nahm ohne weiteres an, daß ihre Mutter das ihr am besten Passende wählte. Herrn Verloc aber schlossen seine tiefgründigen Betrachtungen wie eine chinesische Mauer ab von den Ereignissen dieser Welt fruchtloser Mühen und trügerischen Scheins.
Als ihre Wahl getroffen war, bot die Verfügung über den Rest neue Schwierigkeiten. Sie wollte die Sachen in der Brett Street lassen, natürlich, aber sie hatte zwei Kinder. Winnie war versorgt durch die Verbindung mit dem ausgezeichneten Gatten, Herrn Verloc. Stevie war verlassen – und ein wenig eigen. Seine Stellung mußte vor gesetzlichem Zugriff und vor jeder Parteilichkeit geschützt werden. Der Besitz der Einrichtung war keineswegs eine Versorgung. Er sollte sie haben – der arme Junge. Eine Schenkung aber mußte den Eindruck erwecken, als sollte an seiner völligen Abhängigkeit gerüttelt werden. Sie fürchtete damit eine Art von Forderung zu begründen. Vielleicht würde es Herrn Verloc auch sein Feingefühl verbieten, seinem Schwager für die Stühle, auf denen er saß, verpflichtet zu sein. Durch ihre langen Erfahrungen mit Mietern war Frau Verlocs Mutter zu einer betrüblichen, aber entsagungsvollen Auffassung von den phantastischen Seiten der menschlichen Natur gelangt. Wie denn, wenn Herr Verloc plötzlich auf den Einfall käme, Stevie zu sagen, daß er sich für sein Gerümpel einen anderen Unterschlupf suchen sollte? Andererseits konnte eine Teilung, und wäre sie noch so sorgfältig vorgenommen, Winnie leicht Anlaß zur Kränkung geben. Nein. Stevie mußte verlassen und abhängig bleiben. Und im Augenblick, als sie die Brett Street verließ, hatte sie zu ihrer Tochter gesagt: »Unnötig, zu warten, bis ich tot bin, nicht wahr? Alles, was ich hierlasse, gehört nun dir, meine Liebe.«
Winnie hatte schon den Hut auf, stand schweigend hinter ihrer Mutter und fuhr fort, an dem Mantelkragen der alten Frau herumzurichten. Sie nahm ihre Handtasche und ihren Regenschirm mit unbewegtem Gesicht auf. Die Stunde war gekommen, um für die voraussichtlich wohl letzte Droschkenfahrt im Leben von Frau Verlocs Mutter die Summe von dreieinhalb Schilling auszugeben. Sie trat aus der Ladentür.
Das Gefährt, das sie draußen erwartete, hätte als Beweis für die Richtigkeit des Sprichworts dienen können, daß »Wahrheit grausamer sein kann als Karikatur« – wenn es ein solches Sprichwort gäbe. Hinter einem bresthaften Gaul rollte auf ausgeleierten Rädern ein elender Wagen daher, mit einem nicht minder bresthaften Kutscher auf dem Bock. Dieser letztere Umstand hätte fast zu Verwicklungen geführt. Als Frau Verlocs Mutter sah, daß aus dem linken Rockärmel des Mannes statt eines Armes ein eiserner Haken hervorragte, da verflog plötzlich der Mut, den sie alle die Tage her durchgehalten hatte. Sie war ihrer selbst nicht mehr sicher. »Was meinst du, Winnie?« Sie zögerte. Die leidenschaftlichen Ausführungen des Kutschers schienen aus gedrosselter Kehle herausgequetscht. Er bog sich von seinem Sitz herunter und ließ ein Flüstern rätselhafter Entrüstung hören. Was gab es nun? Durfte man einen Mann so behandeln? Sein großes schmutziges Gesicht flammte rot durch das Düster der Gasse. Hätten sie ihm vielleicht eine Fahrterlaubnis gegeben, forschte er verzweifelt, wenn er nicht –
Der diensthabende Schutzmann beruhigte ihn durch einen freundlichen Blick; dann wandte er sich ohne sonderliche Hochachtung an die beiden Frauen und sagte:
»Er fährt nun seine Droschke seit zwanzig Jahren. Ich wüßte nicht, daß er je einen Unfall gehabt hätte.«
»Unfall!« zischte der Kutscher empört.
Das Zeugnis des Schutzmanns legte die Sache bei. Die bescheidene Zusammenrottung von sieben Leuten, meist unmündigen Alters, verlief sich. Winnie folgte ihrer Mutter in das Cab; Stevie kletterte auf den Kutschersitz. Sein offenstehender Mund und der leere Blick deuteten den Gemütszustand an, in den ihn der Gang der Ereignisse versetzt hatte. In der engen Gasse merkten die innen Sitzenden an dem Vorbeigleiten der nahen Häuserfronten und an dem Rasseln und Glasklirren, als ob alles hinter ihnen zusammenstürzte, daß die Reise weiterging. Das bresthafte Pferd, dem das Geschirr am dürren Gerippe klapperte, schien zimperlich auf den Zehenspitzen mit unendlicher Geduld hinzutänzeln. Später, in dem freieren Raum von Whitehall, hörten alle sichtbaren Zeichen von Fortbewegung auf; das Rasseln und Klirren klang an der Stirnseite des Schatzamtes hin – und die Zeit selbst schien stillezustehen.
Schließlich bemerkte Winnie: »Das ist kein sehr gutes Pferd.«
Durch das Dunkel des Wageninneren blickte ihr Auge starr und glänzend geradeaus. Oben auf dem Kutschersitz schloß Stevie seinen schlaffen Mund zuerst und sagte dann eindringlich: »Nicht!«
Der Kutscher hielt die Zügel hoch, die er um den Eisenhaken gewunden hatte, und hörte nicht darauf. Vielleicht auch hatte er wirklich nichts gehört. Stevie atmete schwer.
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