Название: Wachtmeister Studer
Автор: Friedrich C. Glauser
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962816315
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Sonst brauchen sie, glaub’ ich, einen Dispens… Vom Papst – oder vom Bischof – ich weiß nicht…« Sie seufzte, zog die Fieberkurve zu sich heran und begann sie eifrig zu studieren.
»Was ist das?«, fragte sie plötzlich und deutete auf das blaue Kreuz.
»Das?« Studer stand hinter dem Mädchen. »Das wird wohl der Todestag deines Vaters sein.«
»Nein!« Marie schrie das Wort. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Mein Vater ist am 20. Juli gestorben. Ich hab’ selbst den Totenschein gesehen und den Brief vom General! Am 20. Juli 1917 ist mein Vater gestorben.«
Sie schwieg und auch Studer hielt den Mund.
Nach einer Weile sprach Marie weiter: Die Mutter habe es oft genug erzählt. Am einundzwanzigsten Juli sei ein Telegramm gekommen, das Telegramm müsse noch bei den Andenken sein, dort im Schreibtisch, in der zweituntersten Schublade. Und dann, etwa vierzehn Tage später, habe der Briefträger die große gelbe Enveloppe gebracht. Nicht viel habe sie enthalten. Den Pass des Vaters, viertausend Franken in Noten der algerischen Staatsbank und den Beileidsbrief eines französischen Generals. Lyautey habe der Mann geheißen. Ein sehr schmeichelhafter Brief: Wie gut Herr Cleman die Interessen Frankreichs vertreten habe, wie dankbar das Land Herrn Cleman sei, dass er zwei deutsche Spione entlarvt habe…
»Zwei Spione?«, fragte Studer. Er saß auf einem Stuhl in der Ecke beim offenen Fenster, hatte die Ellbogen auf die Schenkel gestützt und die Hände gefaltet. Er starrte zu Boden. »Zwei Spione?«, wiederholte er.
Marie schloss das Fenster. Sie blickte auf den Hof, ihre Finger trommelten einen eintönigen Marsch gegen die Scheiben und ihr Atem ließ auf dem Glase einen trüben Fleck entstehen: Tröpflein bildeten sich, kollerten herab, bis der Fensterrahmen sie aufhielt.
»Ja, zwei Spione.« Maries Stimme war eintönig. »Die Gebrüder Mannesmann… Mit dem Brief aber war es so: Wir wohnten damals an der Rheinschanze und hatten eine große Wohnung. Dann kam eines Tages der Brief. Ich hatte Ferien… Der Briefträger brachte die große Enveloppe, sie war rekommandiert, und die Mutter musste unterschreiben. Es fielen zwei Tränen in das Büchlein des Briefträgers und die Schrift des Tintenbleistifts lief auseinander. Der Vater hinterließ nicht viel, und nach seinem Tode ging es uns schlecht. Die Mutter wunderte sich später oft, dass so wenig Geld zurückgeblieben war. Die Tante in Bern, die besaß ein Vermögen…«
Studer blätterte in seinem Notizbuch. Die erste Frau!… Hatte der Mönch, der Weiße Vater, nicht von ihr gesprochen? Da: »Sophie Hornuss, Gerechtigkeitsgasse 44, Bern.«
»Wie ist der Vater mit den zwei Spionen – mit den… wie hast du sie genannt?… ah ja!… mit den Gebrüdern Mannesmann ausgekommen?«
»Gut. Ganz gut zuerst. Ich weiß das alles nur von der Mutter. Sie hatten Schürfungen gemacht, wie ich Ihnen erzählte. Besonders im Süden von Marokko. Das heißt, der Vater hatte das Vorkommen der Erze entdeckt. Die Brüder Mannesmann gaben sich als Schweizer aus; und dann, während dem Krieg, haben sie einigen Deutschen aus der Fremdenlegion zur Rückkehr in die Heimat verholfen. Das hat der Vater erfahren und dem General mitgeteilt. Und dann wurden die beiden ganz einfach an die Wand gestellt. Zum Dank für den Ver… für die Benachrichtigung ist der Vater bald nachher von der französischen Regierung angestellt worden…«
»So syg das gsy«, nickte Studer. Er stand auf, beugte sich wieder über den Schreibtisch. Die ausgelegten Karten hatten es ihm angetan.
»Und was habe es für eine Bewandtnis mit den Karten?«
Marie Cleman stützte die Hände auf das Fensterbrett und saß leicht auf dem vorspringenden Absatz, während ihre Fußspitzen den Rand des abgeschabten Teppichs berührten. Dünne Fesseln hatte das Mädchen!…
Die Karten! Das sei eben das Elend gewesen! Darum sei sie von der Mutter fort, erklärte Marie. »Ach!«, seufzte sie, »es ist nicht mehr zum Aushalten gewesen, der ganze Schwindel! Die Dienstmädchen, die zehn Franken zahlten, um zu wissen, ob der Schatz ihnen treu sei; die Kaufleute, die Rat wollten für eine Spekulation; die Politiker, denen die Mutter bestätigen musste, dass sie wieder gewählt würden… Und zum Schluss kam noch der Bankdirektor. Aber dieser Herr kam wegen mir. Und wissen Sie, Onkel Studer, ich glaub’, die Mutter schien nicht einmal etwas dagegen zu haben, dass ich mit dem Bankdirektor… Da bin ich eines Tages abgereist…«
Studer war aufgefahren. Er stand dem Meitschi gegenüber. Wie hatte ihn die Marie genannt? Onkel Studer? Das verschlug ihm den Atem… Aber, b’hüetis, was war dabei? Er hatte das Meitschi geduzt, nach alter Berner Manier. Hatte da die Marie nicht ebenfalls das Recht auf eine gewisse Familiarität? Onkel Studer! Es wärmte… Exakt wie Bätziwasser.
»Wenn du schon«, sagte Studer, und seine Stimme klang ein wenig heiser, »Onkel sagst, dann sag wenigstens: Vetter Jakob. Onkel! Das sagen die Schwaben…«
Marie war rot geworden. Sie blickte dem Wachtmeister ins Gesicht und sie hatte eine besondere Art, die Leute anzusehen: nicht eigentlich prüfend, mehr erstaunt – ruhig erstaunt, hätte man es nennen können. Studer fand, diese Art des Anschauens passe zu dem Mädchen. Aber er konnte sich vorstellen, dass sie anderen Leuten auf die Nerven fiel.
»Gut! Also!«, sagte Marie. »Vetter Jakob!« Und gab dem Wachtmeister die Hand. Die Hand war klein, kräftig. Studer räusperte sich.
»Du bist abgereist… schön. Nach Paris hat mir dein Onkel erzählt. Mit wem?«
»Mit dem ehemaligen Sekretär meines Vaters. Koller hieß er. Er kam uns einmal besuchen und erzählte, er habe sich selbstständig gemacht und brauche jemanden, zu dem er Vertrauen haben könne. Ob ich ihn begleiten wolle, als Stenotypistin? Ich hatte die Handelsschule besucht und sagte ja…«
Pelzjackett, seidene Strümpfe, Wildlederschuhe… Langte das Salär einer Sekretärin für so teure Anschaffungen? Studer vergrub die Hände in den Hosensäcken. Ihm war ein wenig traurig zumute; darum rundete er den Rücken und fragte:
»Warum bist du jetzt auf einmal zur Mutter gefahren?«
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