Zulassung zur Abschaffung - Die heillose Kultur - Band 2. Dr. Phil. Monika Eichenauer
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      Sehen Sie, da müssen Sie innerlich Berge versetzen, um dennoch ihre Arbeit gut zu verrichten!

      Nun folgen Sie mir bitte noch einen Augenblick! Richard David Precht zitiert in seinem viel gelesenen Buch „ Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ (2007) eine Untersuchung des Psychologen Marc Hauser von der Harvard Universität. Es geht um folgende Situation: „Ein Waggon rast völlig außer Kontrolle über das Gleis direkt auf fünf Gleisarbeiter zu. Sie, lieber Leser, stehen an der Weiche und sehen den führerlosen Wagen heransausen. Wenn Sie die Weiche nach rechts umstellen, können Sie das Leben der fünf Männer in letzter Sekunde retten. Der einzige Haken dabei ist: Wenn der Waggon nach rechts abbiegt, überfährt er ebenfalls einen Gleisarbeiter – allerdings nur einen einzigen. Was würden Sie tun?“ (2007, S. 169)

      Dann wurde die Versuchsanordnung durch Marc Hauser variiert: Sie stehen nicht an der Weiche, sondern auf einer Brücke über dem Gleis. Neben Ihnen steht ein dicker Mann, den Sie auf die Schiene stoßen müssten, um den Waggon von den fünf Gleisarbeitern abzulenken.

      Precht weist darauf hin, dass sich 300 000 Menschen diese beiden Fragen bisher gestellt haben. Das Ergebnis bezüglich Frage 1: „Fast jeder der Befragten würde die Weiche umstellen. Er würde den Tod von einem einzigen Menschen in Kauf nehmen, um das Leben von fünf Männern zu retten. Frage 2: Nur jeder Sechste würde den dicken Mann von der Brücke schubsen, um das Leben der fünf Männer zu retten. Die große Mehrheit würde es nicht tun.“ (Precht, 2007, S. 170)

      Precht: „Ist das nicht ein seltsames Ergebnis? Ob ich die Weiche umstelle oder den Mann von der Brücke stoße – das Resultat ist doch in beiden Fällen das Gleiche? Ein Mann stirbt, und fünf werden dadurch gerettet. Von der Bilanz der Toten und Überlebenden her gesehen gibt es keinen Unterscheid. Und doch scheint es einer zu sein. Ob ich den Tod eines Menschen in Kauf nehme oder ob ich ihn selbst herbeiführe, ist ganz offensichtlich nicht dasselbe. Psychologisch macht es einen erheblichen Unterschied, ob ich aktiv oder passiv für den Tod von Menschen verantwortlich bin. Im ersten Fall habe ich das Gefühl, einen Mord zu begehen, selbst wenn ich damit das Leben anderer Menschen rette. Im zweiten Fall ist es eher das Gefühl, Schicksal zu spielen. Zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen liegen gefühlte Welten. Und bezeichnenderweise unterscheiden auch die Strafgesetzbücher nahezu aller Länder sehr genau zwischen mutwilligen und unterlassenden Handlungen.“ (Precht, 2007, S. 170; Block M.E.)

      Überträgt man diese Untersuchung auf das Gesundheitswesen und die darin arbeitenden Psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten, so stehen sie jeden Tag vor der Notwendigkeit, eine Auswahl an Patienten, die sie behandeln, zu treffen: Nehme und behandele ich einen Privatpatienten oder einen Kassenpatienten? Diese Entscheidung nimmt ihnen keiner ab. Es ist auf der tieferen Ebene auch eine Frage, ob ich meine finanzielle und menschliche Existenz gegen die Existenz des Patienten stelle. Welcher gebe ich mehr Gewicht? Wen und wie viele behandele ich? Was kann ich selbst gerade noch verkraften und weis dennoch nicht, wie ich die Steuern bezahlen kann?

      Es macht einen riesigen Unterschied, ob ich persönlich jeden Tag aufs Neue viele solcher Entscheidungen für oder gegen Patienten treffen muss (und mit diesen Entscheidungen fertig werden muss), weil die Krankenkasse ggf. die notwendigen Maßnahmen nicht erstattet und mir bewusst ist, dass ich sie dann selbst bezahlen muss: und dies zusätzlich bei nicht diskutablen Honoraren. Oder ob Politiker aus großer Ferne Gesetze und Verordnungen verabschieden, die genau in den Kern der gesundheitlichen und finanziellen Belange von Menschen, von Patienten und Psychologischen Psychotherapeuten und Ärzten, zielen und letztlich ein „Du oder Ich“ gesetzlich fixieren, das letztlich mit der Notwendigkeit von „Kostenreduzierung“ begründet wird und für Millionen von Menschen Weichen stellen, die nicht zur Heilung und Gesundheit führen (können). Die nicht auf Heilung zielende Maxime des Handelns durch Ökonomisierung von Behandlungsinhalten ergänzen ein Medizinverständnis, das ausschließlich reduktionistisch Symptome behandelt– an Leben und Leiden von Menschen vorbei. Es verbürgt nur eins, Gewinne in der Gesundheitswirtschaft und Inflation von ärztlicher und psychotherapeutischer Berufsidentität. Letztlich wird sich niemand freiwillig in ein solches System einordnen wollen: Studenten studieren kaum noch Medizin, und wenn doch, dann gehen sie anschließend ins Ausland.

      Es macht einen Unterschied, ob man die Zahlen von Menschen, die keiner ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung zugeführt werden können, nur hört, oder ob man im System sitzt und daran mitzuwirken gezwungen ist. Politiker und andere in der Gesundheitswirtschaft mitmischenden Berufsgruppen, die massgebliche festlegen, wie und wie viel wir zu arbeiten haben und mit welchen Methoden, haben keinen direkten Zugang zu Patienten. Von der von ihnen eingenommenen Vogelperspektive ist es natürlich leicht, Behandlungen für Patienten und Honorare der Behandler zu dezimieren. Denn sie erleben und sehen die Not nicht, die sie damit verursachen. Sie können sich alle sagen, sie seien nicht direkt beteiligt an dem, was sich aus den Gesetzen für das Leben der Menschen ergibt. Früher sagte man, dass sich bestimmte Menschen nicht die Hände schmutzig machten.... aber die gleichen sorgen dafür, dass andere mit Schmutz beworfen werden können... Maßgeblich hat dieses Vorgehen etwas damit zu tun, dass man Verantwortlichkeiten so delegiert und umverteilt, dass diejenigen, die Inhalte festlegen, den offiziell in der Praxis verantwortlichen Behandlern alles in die Schuhe schieben kann.

      Zum Schluss noch einmal Precht: „Aktives Tun ist moralisch betrachtet etwas anderes, als etwa einen Befehl oder eine Anordnung zu geben. Die Soldaten, die die Bomben von Hiroshima und Nagasaki abwarfen, wurden damit seelisch nicht fertig; ihre Vorgesetzten bis hin zu Präsident Trumann, der den Beschluss dazu gefasst hatte, hatten offensichtlich weniger Probleme damit. Wir unterscheiden beabsichtigten und vorhergesehenen Schaden. Wir unterscheiden direktes und indirektes Tun. Und die meisten Menschen halten Schaden, der durch Körperkontakt entsteht, für verwerflicher als den, bei dem es zu keiner Berührung kommt. Es fällt leichter, einen Knopf zu drücken, um jemanden zu töten, als jemandem ein Messer ins Herz zu stoßen. Je abstrakter eine brutale Tat ist, umso leichter scheint sie zu fallen.“ (Precht, 2007, S. 171)

      Es macht einen Unterschied, lieber Leser, ob jemand darüber schreibt, was Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten tun oder nicht tun oder ob jemand Psychologischer Psychotherapeut oder Arzt ist und mitteilt, wie es ist, in diesem Gesundheitssystem zu arbeiten und zu sein, sprich, damit zu leben. Es macht einen Unterschied, ob man Patient oder Politiker ist, ob man dieses System und die ausgeklügelte ökonomische Systematik implantiert durch sein Handeln oder ob man es erleben und erleiden muss.

       „Medizin“

      Medizin hießen in früheren Zeiten all jene Mittel, die Menschen gesunden ließen und heilten. Das konnten Rituale sein, das konnten Berührungen sein, das konnten Worte sein, das konnten Wurzeln und Kräuter sein, aber auch verschiedene Methoden, wie Menschen zu heilen sind… Das berühmteste und bekannteste wie älteste Heilsystem ist weltweit das der Schamanen. Seit mindestens 40.000, geschätzt werden jedoch 100.000 Jahren, konnten Menschen in vielen Kulturen rund um die Welt auf dieses Heilsystem zurückgreifen beziehungsweise entwickelten es als System, um mit den Anforderungen des Lebens fertig werden zu können. Schamanismus ist ein Geist-Körper-Heilsystem, das auch heute noch weltweit verbreitet ist wie genutzt wird. Ausführlich berichtet Mircea Eliade (1954) in seinem Klassiker „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ (1954) über die weltweite Übereinstimmung schamanischer Techniken. Michael Harner ergänzt in seinem Buch „Der Weg des Schamanen“ eigene Erfahrungen und zeigt verschiedene Methoden auf.

      Jahrelang reiste er um die Welt, trug Erkenntnisse zusammen und bildet seitdem an Schamanismus interessierte Menschen aus. Eine Faszination bei der Beschäftigung des Schamanismus ist sicherlich, dass es „eine bemerkenswerte Übereinstimmung...nicht nur im allgemeinen Inhalt, sondern auch im besonderen Detail’ zwischen den schamanischen Reisen der venezolanischen Warao und den Wiradjeri Australiens gibt, einen Ozean und Kontinent entfernt.“ (Wilbert, Johannes 1973/74, S. 81f, in: Harner, 2007, S. 78) Legt man die anthropologische СКАЧАТЬ