Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith
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Название: Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen

Автор: Sibylle Reith

Издательство: Bookwire

Жанр: Медицина

Серия:

isbn: 9783754949412

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СКАЧАТЬ Wir wissen heute, dass Umweltfaktoren nicht nur zu bleibenden genetischen Veränderungen (Mutationen) in der Erbsubstanz führen können, sondern auch langfristige, z.T. generationenübergreifende Auswirkungen auf die Genexpression durch epigenetische Mechanismen haben: Es ist von zentraler Bedeutung, ob Gene „angeschaltet“ oder „stillgelegt“ werden.

      Die Exposom-Forschung

      Dr. Christopher P. Wild war bis 2019 Direktor der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation/IARC. Als Krebsspezialist war ihm bewusst, dass Lebensgewohnheiten wie Ernährung, Rauchen, Alkoholgenuss und Bewegung direkten Einfluss auf die von unserem Genom kodierten Stoffwechselaktivitäten nehmen. Während das Genom entschlüsselt werden konnte, werden die Expositionen, denen jeder Mensch lebenslang – von der Empfängnis bis zum Tod – ausgesetzt ist, bis heute nur in sehr geringem Umfang systematisch erforscht und katalogisiert. Dr. Wild schlug 2005 in einem wissenschaftlichen Artikel 3.2.3/1 Wild als übergeordneten Sammelbegriff für alle nicht-genetischen Faktoren die Bezeichnung „Exposom“ (engl. Exposome) vor, die sich aus den englischen Wörtern „exposure“ und „genome“ zusammensetzt. Im englischsprachigen Bereich wird der neue Forschungszweig als „Exposomics“ bezeichnet.

Das ExposomDas Exposom kann definiert werden als die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse und die damit verbundenen biologischen Reaktionen. Die Exposom-Forschung untersucht, wie verschiedenartige Expositionen und die individuellen Reaktionen darauf mit der Entstehung von Krankheiten zusammenhängen.

      Dr. Wild gliederte die „nicht-genetischen“ Expositionen in drei Kategorien, die ineinander verflochten sind:

      1 Körpereigene Prozesse wie Stoffwechsel, endogen zirkulierende Hormone, die Körpermorphologie, körperliche Aktivität, das Darmmikrobiom, Entzündungen, Lipid-Peroxidationen, oxidativer Stress und Alterung. Diese internen Bedingungen wirken sich alle auf die zelluläre Umgebung aus. In der Literatur werden sie als Wirts- oder endogene Faktoren beschrieben.

      2 Spezifische externe Expositionen wie Strahlung, Infektionserreger, chemische Kontaminanten und Umweltschadstoffe, Ernährung, Lebensstilfaktoren (z. B. Tabak, Alkohol), Beruf und medizinische Interventionen. Diese umweltbedingten Risikofaktoren sind die Schwerpunkte epidemiologischer Studien in Bezug auf Nichtübertragbare Krankheiten wie z. B. Krebs.

      3 Allgemeine externe/soziale Determinanten der Gesundheit: Soziale, wirtschaftliche und psychologische Einflüsse auf das Individuum, wie z. B.: Gesellschaftliches Kapitalvolumen, Bildung, finanzieller Status, psychischer und mentaler Stress, Stadt-Land-Umwelt und Klima.

      Viele Expositionsfaktoren bleiben verborgen, für andere gibt es noch keine spezifischen Nachweis-Methoden. Manche Faktoren, z. B. lösliche Chemikalien, sind flüchtig oder werden rasch wieder ausgeschieden. Zudem wirken sich umweltbedingte Expositionen bei jedem Menschen u.a. aufgrund der unterschiedlichen genetischen Faktoren unterschiedlich aus. Einige Menschen werden krank, während andere mit derselben oder gar einer höheren Exposition nicht erkranken.

      Paradigmenwechsel: Vom Genom zum Exposom

      Das European Human Exposome Network (siehe unten) vertritt die Sichtweise, dass ein grundlegender Wandel in der Auffassung von Gesundheit notwendig sei und setzt sich für einen Wechsel vom klassischen biomedizinischen Modell „eine Exposition, eine Krankheit“ hin zu einem umfassenderen Ansatz ein. Die Einbeziehung des Exposom erlaubt einen erweiterten Blick auf die Krankheitsentstehung und ermöglicht u.a. wirksame Präventionsmaßnahmen und -konzepte für die Zukunft.

      Ein ehrgeiziges Unterfangen

      Vor einigen Jahren hätte man das Unterfangen, das gesamte Exposom eines Menschen zu kartieren, noch als Science fiction abgetan. Doch derzeit werden, in Analogie zu den Genomweiten Assoziationsstudien/GWAS, die heute kostengünstige und schnelle Analysen des gesamten Genoms ermöglichen, Expositionsweite Assoziationsstudien/EWAS entwickelt, um zukünftig die Gesamtheit des lebenslangen Exposom zu analysieren.

      Hochdurchsatz-Technologien

      In der Anfangsphase des Humangenomprojekts } Siehe Kapitel 28 arbeiteten Wissenschaftler 13 Jahre lang an der Sequenzierung des ersten Genoms – die Gesamtkosten beliefen sich auf mehr als drei Milliarden Euro. Heute kann die schnellste derzeit verfügbare Maschine 60 Genome an einem Tag sequenzieren – bei überschaubaren Kosten.

      Möglich wird diese Forschung durch Hochdurchsatz-Analysen mit Verfahren, die automatisiert biologische Proben untersuchen. Nicht nur die Gene, auch Proteine und die Stoffwechselprodukte können heute in einer Probe erfasst werden. Dazu gehören z. B. Antikörperbildung, Addukte, genetische Mutationen, epigenetische Veränderungen oder toxikogenomische Wirkungen. So entstehen riesige Datenmengen, die nur mit Großrechnern ausgewertet und bewältigt werden können. Forscher versuchen innerhalb dieser Datenmengen aussagekräftige Schlüsselmoleküle/Signaturen herauszufiltern. Im Rahmen eines Programms zur Expositionsbiologie wird von der US-amerikanischen National Institute for Environmental Sciences/NIEHS die Entwicklung neuer Instrumente zur Expositionsbewertung gefördert.

Mit Hilfe dieser neuen Technologien, werden Zusammenhänge mit den Umgebungsfaktoren erkennbar, die bislang verborgen waren.

      Die Analysen sind teuer und werden derzeit fast ausschließlich für Forschungszwecke eingesetzt. Doch es ist zu beobachten, dass die Kosten für diese Verfahren weltweit sinken, je mehr sie eingesetzt werden.

      Unsere individuelle „Wolke“

      „Menschen haben Dinge wie Luftverschmutzung gemessen, aber niemand hat wirklich die biologische und chemische Aussetzung auf persönlicher Ebene gemessen. Niemand weiß wirklich, wie groß das menschliche Exposom ist und was sich darin befindet.“ 3.2.3/2 Rötzer

      Das Zitat stammt von dem Genetiker Michael Snyder von der Stanford University School of Medicine in Kalifornien, USA, der mit seinem Team mit Hilfe eines Gerätes, das Partikel aus der Luft filterte, die jeweiligen örtlichen Umgebungsfaktoren untersuchte. Die Forscher konnten anhand des Filtersubstrates je nach Region, Wetter, Jahreszeit und den Eigenheiten des jeweiligen Haushalts Unterschiede feststellen. Sie fanden Spuren von Staub-, Haut- und Spinnmilben, von Mücken, Fliegen, Bienen und Kakerlaken – und von Viren, die über Haustiere übertragen wurden. In nahezu jeder Probe fanden die Forscher Partikel des Insektenabwehrmittels DEET, das Pestizid Omethoat und krebserregend wirkende Stoffe wie Diethylenglycol.

      „Wir haben alle unsere eigene Mikrobiom-Wolke, die wir mit uns herumschleppen und verteilen. [...] Insgesamt lassen unsere Ergebnisse annehmen, dass wir ständig Tausenden Chemikalien ausgesetzt sind, oft an bestimmten Orten“ 3.2.3/3 Rötzer

      so der Studienleiter Michael Snyder. Langfristig wird die Exposom-Forschung Aussagen zur Umgebungsqualität in verschiedenen Lebensräumen, bzw. auch Innenräumen möglich machen.

Viren im ExposomDie Münchner Epidemiologin Annette Peters wies darauf hin, dass die Untersuchung des Exposom auf Viren frühzeitig Hinweise auf Erkältungswellen liefern könnte. Diese Aussage bekommt in diesen Zeiten der COVID-19-Pandemie besonderes Gewicht.

      Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung

      Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ in Leipzig ist eines der weltweit führenden Forschungszentren im Bereich der Umweltforschung. Der Forschungsschwerpunkt IP Exposome (IP = Integriertes Projekt) betreibt interdisziplinäre Forschung zu molekularen Mechanismen der Toxizität. Der Schwerpunkt liegt derzeit zunächst auf der Erforschung der Wirkung von Chemikalien auf biologische Regelkreise in Organismen.

      „Wenn wir verstehen, wie Umweltfaktoren einschließlich Schadstoffen das innere chemische Milieu von Organismen – das EXPOSOM – beeinflussen und wissen, welche Rolle diese Prozesse bei der Entstehung von СКАЧАТЬ