Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith страница 25

Название: Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen

Автор: Sibylle Reith

Издательство: Bookwire

Жанр: Медицина

Серия:

isbn: 9783754949412

isbn:

СКАЧАТЬ No 22 01/2002. Unter dem Titel „Späte Lehren aus frühen Warnungen: Das Vorsorgeprinzip 1896–2000“ publizierte das Umweltbundesamt 2004 die deutsche Übersetzung. Untersucht wurden die Vorsorgekonzepte und die Risikobewertung, bzw. das Risikomanagement der vergangenen hundert Jahre in Bezug auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die Umweltsituation in Europa.

      Abb. 3.2.1/2 Die Komplexität toxischer Wirkungen

      Die wenigsten neuartigen Substanzen werden hinsichtlich ihrer Toxizität untersucht, geschweige denn auf Faktoren wie Wechselwirkungen oder Kumulationseffekte. Zusätzlich wird die Beurteilung erschwert, weil jeder Mensch über individuelle Entgiftungsleistungen verfügt. } Siehe Kapitel 22

Zwölf „späte Lehren“ wurden von den Autoren unter Federführung des wissenschaftlichen Beirats der EUA aus den vorgestellten zwölf Fallberichten abgeleitet, bei denen in jedem Fall klare Beweise für die Gefährdung der Bevölkerung und deren Umwelt zunächst ignoriert wurden. Thematisiert wurden u.a.: Strahlung (Röntgen, Radioaktivität), Benzol, Asbest, PCB und FCKW.

      Bei allen Problemfeldern gab es nach den ersten Hinweisen jahrzehntelange wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion. Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), wurden beispielsweise so lange als harmlos abgetan, bis die Schäden in Zusammenhang mit der stratosphärischen Ozonschicht nicht mehr geleugnet werden konnten.

Die Politik reagierte bei vielen Themen zu zögerlich, war offen für Lobbyinteressen und reagierte erst spät mit Vermarktungsverboten.

      Die so entstandenen gesellschaftlichen Folgekosten überstiegen die Gewinne der Hersteller der gefährlichen Güter bei weitem. Das führte nicht nur zu horrenden wirtschaftlichen Schäden für die Volkswirtschaften, sondern vor allem auch zu gesundheitlichen und sozialen Folgen.

Die Risiken der scheinbar so nützlichen Technologien blieben so lange unbeachtet, bis die unumkehrbaren Folgen nicht mehr zu stoppen waren.

      Erlaubt = ungefährlich?

      Bei Asbest war die Latenzzeit zwischen dem ersten Auftreten der Belastung und der Eindämmung der Produktion so lang, dass viel zu viele Menschen an asbestbedingtem Lungen- oder Rippenfellkrebs erkrankten. Auch das Beispiel DDT zeigt, wie langsam die Mühlen mahlen, wenn es um gesundheitsschädliche Gefahren von Chemikalien geht: DDT wurde 1942 unter dem Handelsnamen „Gesarol“ als Mittel zum Pflanzenschutz und als „Neocid“ für den Hygienebereich auf den Markt gebracht und war über Jahrzehnte hinweg das am häufigsten verwendete Insektizid weltweit. Mitte der 1950er-Jahre wurde die schädigende Wirkung von DDT auf Vögel, Fische und Amphibien bekannt. Das Insektizid wurde in den Siebzigerjahren erst in Schweden, dann in Dänemark, in den USA und in Deutschland (1. Juli 1977) verboten.

Die Verwendung des gesundheitsschädlichen DDT war also 35 Jahre lang erlaubt.

      Die Substanz wird nicht abgebaut: Noch heute ist das Insektenschutzmittel in Umweltsedimenten und damit im Rohstoffkreislauf zu finden. Heute wissen wir, dass DDT sich im menschlichen Organismus ansammelt und in den Hormonhaushalt eingreift. DDT wird über Generationen weitergegeben. Bei Schwangeren gelangt es über Plazenta und Nabelschnur in hohen Konzentrationen auch in den Embryo, was zu Fehlbildungen führen kann. Auch in der Muttermilch ließen sich DDT und seine chemischen Abkömmlinge nachweisen.

Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass „erlaubt“ keinesfalls mit „unbedenklich“ gleichzusetzen ist. Die Umwelt- und Gesundheitskosten durch DDT werden am Ende nicht von den Verursachern bezahlt, sondern von der Gesellschaft, bzw. von den betroffenen Menschen, die durch DDT zu Patienten geworden sind.

      3.2.2 Evolutionsmedizin

      Alte Gene, neue Umwelt

      Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Lebenswissenschaften die molekularen Strukturen verschiedener Stoffgruppen ermittelt und sie verändert. Evolutionsbiologisch haben wir es mit den novel entities also mit einer Stoffgruppe zu tun, die in der Menschheitsgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielte.

Unser Organismus muss sich mit evolutionär völlig neuartigen Faktoren auseinandersetzen, deren Verbreitung seit den ersten Menschenvorfahren bis zur Industrialisierung bei Null lag: Es gab diese erdölbasierten Substanzen schlichtweg nicht!

      Die immunologische Zeitenwende

      Der menschliche Organismus hat sich im Lauf der Evolution mit natürlichen Reizen auseinandergesetzt und seine immunologischen Strategien darauf ausgerichtet. In seiner evolutionären Entwicklung wurde das menschliche Immun- und Entgiftungs-System weder mit Pestiziden noch mit Konservierungsstoffen noch mit synthetischen Nanopartikeln konfrontiert.

      An diese quantitativ überfordernden und qualitativ schädigenden Stoffe sind wir nicht angepasst.

      Synthetische Moleküle werden vom Immunsystem als fremd erkannt und bekämpft. Sie müssen durch die körpereigenen Entgiftungs-Systeme abgebaut werden, die dafür nicht ausgelegt sind. Wir sind zudem auch noch mit einem ebenfalls „altmodischen“ Stresshormon- und Entzündungssystem ausgestattet. Der Umweltmediziner Dr. Kurt E. Müller fasst zusammen:

      „Für neuartige Ursachen immunologischer Auseinandersetzung (z. B. Umweltschadstoffe) ist der menschliche Organismus mit seinen entwicklungsgeschichtlich alten neurobiologischen, metabolischen, enzymatischen und immunologischen Mechanismen den rasch und vielfältig wechselnden Einflüssen der modernen Umwelt nicht adäquat adaptiert, und er nutzt die über lange Zeiträume für Infekte entwickelten Strategien für diese „neuen“ Aufgaben.“ 3.2.2/1 Müller

      Der Evolutionsmediziner Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit schreibt in seinem Buch Die Steinzeit steckt uns in den Knochen:

      „Wenn wir verstehen wollen, wie unser Körper funktioniert, wofür er gemacht oder nicht gemacht ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurückgehen. Manchmal nur Jahrhunderte, manchmal Hunderte Millionen Jahre.“

      3.2.3 Die Exposom-Forschung

      Das Humangenomprojekt

      1990 begann ein internationales Forschungsprojekt, das viel öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr: Das Humangenomprojekt (HGP, engl. Human Genome Project). } Siehe Kapitel 28 In mühseliger Kleinarbeit wurde das Genom (die Erbsubstanz) mehrerer Personen untersucht und miteinander verglichen, um herauszubekommen, welche Gene „Max Mustermann“ hat und an welchen „Genorten“ sie liegen. Da unser Organismus mehr als 100.000 Proteine benötigt, gingen die Forscher davon aus, mindestens 100.000 Gene zu finden. Die Medizin war sich sicher, mit diesem Wissen gezielt Gene zu verändern und damit ein wirksames Werkzeug für die Behandlung unzähliger Krankheiten zu erhalten. Doch mit jeder Presseerklärung schrumpfte die Anzahl der tatsächlich gefundenen Gene. Heute wissen wir:

      Nur auf etwa 1 % der DNA befindet sich die Information zur Synthese von Proteinen. Diese Abschnitte werden proteincodierende Gene genannt. Menschen haben (je nach Quelle) nur ca. 21.000 bis 25.000 proteincodierende Gene. Bei den meisten weiß man nicht, welche Aufgaben sie haben. Ein wissenschaftliches Dilemma – wie können so wenige Gene unseren hochkomplexen menschlichen Organismus lenken? Bei der Umsetzung der Genom-Forschung in die Anwendung wurde immer klarer: Das Genom allein kann die Frage nach den Hauptursachen von Krankheiten nicht beantworten.

Die einfache Rechnung „Gen A macht Krankheit B“ geht nicht auf. Mittlerweile ist gut belegt, dass die Genetik nur etwa 10 % zur Krankheitsentstehung beiträgt. Nun treten zwei junge Wissenschaftsrichtungen auf den Plan, die das nahezu unüberschaubare Wechselspiel der Gene mit Umgebungsfaktoren erforschen: Die Exposom-Forschung und die Epigenetik.
СКАЧАТЬ