Название: Tod im Kanzleramt
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738048872
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Eine Frau verwandelt sich eben bei der geringsten Katastrophe in einen Hamster! Ich drückte sie kurz und unauffällig und nickte. Auf dem Weg zum Hauptportal sahen wir uns noch einmal die Schäden an und entdeckten im hinteren Teil des Gartens Yousefs zertrümmertes Klettergerüst, auf dem er gestern Nachmittag noch Pirat gespielt hatte. Ein großer Baum hatte es quasi geteilt. Es war Altmaiers Lieblingsbaum, und ich hatte ihm schon vor zwei Jahren vorgeschlagen, den Baum zu fällen, da er morsch und faul war. Aber der großartige Kanzleramtsminister war von seiner moralischen Niederlage, die er sich bei Angie und mir eingefangen hatte, noch so befangen, dass er mir nicht Recht geben wollte. Nun hatten wir die Bescherung.
Yousef lief gerade vor uns her, dann blieb er abrupt stehen. Im gleichen Moment spürte ich, wie auch Gaby neben mir ganz steif stehen blieb, und ich sah es selbst: Die östliche Seite der Stadt hinter dem Kanzleramt war verschwunden. Sie war unter grellweißem Nebel begraben wie unter einer vom Himmel gefallenen Schönwetterwolke.
Mein nächtlicher Traum fiel mir wieder ein, und als Gaby mich fragte, was das sei, wäre mir um ein Haar das Wort GOTT entschlüpft.
„Stefan?“ Es war Yousef, der mich rief.
Man konnte nicht einmal eine Spur der östlichen Nachbarschaft dort drüben sehen, aber jahrelanges Betrachten der Hochhäuser, des Fernsehturms und des brodelnden Stadtverkehrs brachte mich zu der Überzeugung, dass sich der Ostteil nur wenige hundert Meter hinter der fast schnurgeraden Nebelfront befinden musste.
„Was ist das, Stefan?“ rief Yousef.
„Eine Nebelwand“, antwortete ich.
„Auf den Straßen?“ fragte Gabriele zweifelnd, und ich konnte Alice Schwarzers Einfluss in ihren Augen sehen. Dieses verdammte Weib! Mein eigenes flüchtiges Unbehagen legte sich schon wieder. Träume sind schließlich nichts Gegenständliches – ebenso wenig wie Nebel.
„Sicher. Du hast doch schon oft Nebel in der Stadt gesehen.“
„So einen noch nie. Das hier sieht mehr wie eine Wolke aus.“
„Das liegt an der grellen Sonne. Wenn man mit dem Flugzeug über Wolken hinwegfliegt, sehen sie genauso aus.“
„Aber woher kommt er? Nebel bildet sich doch sonst nur bei feuchtem Wetter.“
„Na, jedenfalls ist er jetzt da“, sagte ich. „Zumindest im Ostteil Berlins. Es ist eine Folgeerscheinung des Sturms, weiter nichts. Zwei Wetterfronten, die aufeinandergeprallt sind. Irgend so was.“
„Stefan, bist du ganz sicher?“
Ich lachte und war in Versuchung meinen Arm um ihre Schulter zu legen. „Nein, ich verzapfe bestimmt einen hanebüchenen Unsinn. Wenn ich sicher wäre, könnte ich die ARD-Wettervor-hersage in den Abendnachrichten machen. Lass uns rein und frühstücken.“
Sie warf mir einen zweifelnden Blick zu, schirmte mit der Hand ihre Augen vor der Sonne ab und betrachtete kurze Zeit die Nebelschicht. Dann schüttelte sie den Kopf. „Sonderbar!“ sagte sie und ging auf das Hauptportal des Regierungssitzes zu. Für Yousef hatte der Nebel seine Anziehungskraft bereits eingebüßt.
Ich stand da und betrachtete zuerst noch einmal den Schaden und die Helfer, dann starrte ich wieder auf den Nebel. Er schien jetzt näher zu sein, aber es war sehr schwer, das mit Sicherheit zu sagen. Wenn er jetzt aber tatsächlich näher war, so widersprach das allen Naturgesetzen, denn der Wind – eine ganz leichte Brise – wehte in der Gegenrichtung. Natürlich war das ein Ding der Unmöglichkeit.
Er war sehr, sehr weiß. Das einzige, womit ich ihn vergleichen kann, ist frisch gefallener Schnee, der in blendendem Kontrast zu einem strahlenden tiefblauen Winterhimmel steht.
Aber Schnee reflektiert tausend- und abertausendfach die Sonne, und diese seltsame Nebelbank sah zwar hell und klar aus, aber sie funkelte nicht in der Sonne. Gaby hatte vorhin etwas Falsches behauptet – Nebel ist an klaren Tagen nichts Ungewöhnliches, aber wenn er sehr stark ist, bildet sich durch die Feuchtigkeit fast immer ein Regenbogen. Aber hier sah man keinen Regenbogen.
Wieder überfiel mich ein Unbehagen, aber dann wurde ich abgelenkt durch Yousefs Ruf. Er hatte Hunger. Auch ich wollte endlich frühstücken und ging zum Gebäude zurück und fühlte mich zum ersten Mal seit dem Aufstehen etwas wohler, weil ich Yousefs Wohlergehen vor Augen hatte. Beim Frühstück konnte ich Gaby überreden noch eine Stunde hierzubleiben; vielleicht konnten wir gemeinsam das Kanzleramt verlassen. Viele der Gäste schliefen noch. Yousef fragte nach seiner Mutter. Die Kanzlerin war vor Übermüdung auf ihrem Privatzimmer, das eine Etage über ihrem Büro lag, eingeschlafen. Dort hatte sie ein Bett. Und sie war noch nicht wach, sagte mir Steffen Seibert, dessen Augenschatten heute früh unübersehbar waren. Ich schlenderte durch den Schlafsaal und entdeckte endlich Ken Jebsen, den ich schlafen ließ.
Gegen sieben Uhr tippte mir jemand in die Seite. Es war Yousef, eine Bierdose in einer Hand, Gabys Einkaufsliste in der anderen – falls ich nicht mit ihr gemeinsam gehen konnte. Ich stopfte den Zettel in die Gesäßtasche meiner Anzughose und griff nach dem alkoholfreien Bier, das angenehm kühl war. Ich trank fast die Hälfte davon mit einem Schluck aus – selten hat mir ein Bier am Morgen so gut geschmeckt – und empfand die herankriechende Tageshitze nun weniger erdrückend.
„Gaby hat unten auf die Liste noch was draufgeschrieben, aber ich kann ihre Schrift nicht lesen“, sagte Yousef.
Ich holte die Liste wieder aus meiner Tasche. „Ich bin hier oben bei Herrn Altmaier. Wir können Radio Berlin und den Deutschlandfunk immer noch nicht bekommen“, lautete ihre Notiz. „Glaubst du, dass der Sturm den Sender unterbrochen hat?“
Radio Berlin ist der UKW-Sender für Popmusik und halbstündige Kurznachrichten. Im Gegensatz zum benachbarten Fernsehturm, von wo aus der Deutschlandfunk sendet, liegt die Sendestation von Radio Berlin auf dem weiter westlich gelegenen Teufelsberg, etwa fünf Kilometer Luftlinie von uns entfernt.
„Sag ihr, vermutlich ja“, meinte ich, nachdem ich Yousef ihre Frage vorgelesen hatte. „Frag sie, ob sie auf Mittelwelle den Deutschlandfunk aus Mainz bekommen können.“
„Okay, Stefan. Kann ich mitkommen, wenn du nachher in die Stadt fährst?“
„Klar. Du und deine Mama auch, wenn sie Lust hat.“
„Ja, wenn sie wach ist“, antwortete er.
Ich wusste, dass Angie samt unauffälligem Sicherheitsgefolge hin und wieder tatsächlich auf dem Alexanderplatz einkaufen ging, was ich mir aber heute nicht vorstellen konnte.
„Nun, Yousef, geh zu Herrn Altmaiers Büro.“
„Okay.“ Er rannte mit der leeren Bierdose in den ersten Stock zurück.
Ich hatte mich bereits durch die abgestandene Partylandschaft vorgearbeitet, mir das neu bestückte Frühstücks-Buffet angeschaut und holte mir gerade einen Kaffee und dachte an den Spruch meines unseligen Büronachbarn Altmaier (Kaffee auf Bier rat‘ ich Dir), als ich durch eine der Glastüren sah, wie ein orangefarbener Kastenwagen der E-Werke auf das Gelände fuhr; das ging also in Ordnung. Die Straßen waren offenbar frei, und die Jungs vom E-Werk würden sich hier um die Leitungen kümmern.
Ich trank einen Schluck und dachte daran, dass der СКАЧАТЬ