Название: Tod im Kanzleramt
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738048872
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Ich hatte es augenzwinkernd abgetan. Außerdem verbreitete eine alte Lowbrooker Bekannte die Geschichte von der weltweit zunehmenden Strahlung, die sie hätte messen lassen. Und auf das Wort »Strahlung« reagiere ich naturgemäß sehr empfindlich, seit ich der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 während meines Japanbesuches an der Seite der Kanzlerin nur knapp entgangen war.
Schweppes sagte, er wisse genau, dass es am Fracking liege, aber wenn man ihn fragte, woher er seine Informationen denn habe, gab er ziemlich vage Antworten. Sein Bruder arbeite für die Telekom, und dort habe man gewisse Dinge gehört. Und einmal erwähnte er die Ukraine und Tschernobyl, aber da war er - ehrlich gesagt - ziemlich beschwipst gewesen.
„Atomzeugs“, hatte Schweppes an jenem Tag erklärt, während er im Fenster meines Land Cruisers lehnte und einen unglücklichen Eindruck machte. „Damit treiben sie dort ihren Unfug. Schießen Atome in die Luft und all so was.“
„Herr Schweppes, die Luft ist doch sowieso voller Atome“, hatte Alexa, die auf dem Beifahrersitz saß, eingewandt. „Das sagt uns jedenfalls die wöchentliche TV-Wissensshow. Es heißt, alles sei voll von Atomen.“
Schweppes hatte meiner Frau einen langen Blick aus seinen gutmütigen Augen zugeworfen. „Das sind ANDERE Atome, meine Beste. Das sind ganz andere Atome, die lassen das Leben rückwärts ablaufen.“
„Ach so“, hatte Alexa gemurmelt, während ich sie heimlich am Knie stupste.
Hartmut Müller, unser heimischer Versicherungsagent, erzählte, das Fracking sei kein Problem, es sei eine wissenschaftlich-technische Revolution, nicht mehr und nicht weniger. „Größere Mengen Treibstoff, billigeres Benzin und all so was“, sagte Hartmut weise und fuhr sodann in seinen Erklärungen fort, dass ich meiner Ehe – versicherungstechnisch gesehen – am besten helfen könnte, wenn ich jung sterben würde. Steffi Köhler, unsere Briefzustellerin, war hingegen der Meinung, es sei eine geologische Normalität, weil Fracking und Gasgewinnung nichts mit dem Wetter zu tun hätten, schließlich spiele sich Fracking unter der Erde ab. Sie wisse es ganz genau, denn der Bruder ihres Mannes arbeite auch bei der Post, in Nordhessen. Und er kenne dort eine Bürgerinitiative mit mehreren tausend Mitgliedern, die gegen das Vorhaben, Erdöl und Erdgas mit Hilfe des Fracking-Verfahrens zu fördern, bereits gerichtlich vorgingen; er habe die Verfahrenspost zugestellt.
Und Alice Schwarzer – nun, sie neigte vermutlich mehr zu Schweppes‘ Theorie. Nicht einfach Atome, sondern ANDERE Atome.
Ich sah draußen den Männern zu, die zwei weitere Baumstücke absägten, als Yousef mit einer neuen Dose Bier in einer Hand und einem Zettel von Gaby in der anderen angerannt kam. Es war nun bereits halb acht. Ich wüsste nicht, was Big Yousef lieber täte als Botschaften zu überbringen.
„Danke“, sagte ich und nahm beides entgegen.
„Kann ich einen Schluck haben?“
„Aber nur einen“, antwortete ich lächelnd und las dann Gabys Zettel.
„Wir haben einen undefinierbaren Auslandssender im Radio bekommen“, hatte sie geschrieben. „Glaubst du, dass ich heimfahren kann und die Straßen frei befahrbar sind?“
Ich gab Yousef den Zettel zurück. „Sag ihr, die Straßen müssten frei sein, weil vor kurzem ein Wagen vom E-Werk hier ankam. Ich werde die Leute mal fragen.“
„Okay.“
Er rannte zurück und ich blickte ihm nach. Ich mag ihn sehr. Sein Gesicht und die Art, wie er mich manchmal anschaut, geben mir das Gefühl, als sei die Welt in Ordnung. Natürlich ist das eine Lüge – viele Dinge sind nicht in Ordnung und waren es auch nie – aber Angies Junge lässt mich für kurze Zeit an diese Lüge glauben. Ich glaube die Kanzlerin und ihr Mann haben ihm immer noch nicht gesagt, dass er im Babyalter der einzige Überlebende eines Terrorangriffs der von der CIA ausgebildeten und bewaffneten Rebellen in Homs war, bei dem seine beiden Eltern umkamen, und dass er danach über ein Jahr im Wachkoma lag. Er hatte sein Gedächtnis total verloren. Sie haben ihm gewiss noch nicht gesagt, dass sie ihn adoptiert haben. Man hatte mich gebeten, bei dem Kleinen dieses Thema zu meiden.
Es lebe die Lüge.
Ich machte mich auf die Suche nach den Männern von den E-Werken, und kurze Zeit später tippte mir mein Büronachbar auf die Schulter. Ich blieb stehen. Er sah ganz anders als gewöhnlich aus – verschwitzt und müde und unglücklich und ein bisschen verlegen.
„Moin, Herr Altmaier“, sagte ich. Zuletzt hatten wir vor einer Woche ziemlich harte Worte gewechselt, doch letzten Abend und in der vergangenen Party-Nacht waren wir nicht sonderlich aneinander geraten, und das will schon etwas heißen. Dennoch wusste ich nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.
„Hallo, Herr Koenig“, antwortete er nach kurzem, betretenem Schweigen. „Jener … jener Baum … jener verdammte Baum! Es tut mir leid. Sie hatten Recht.“
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Ein anderer Baum ist genau auf mein Auto, das auf dem offenen Parkplatz stand, gefallen“, fuhr er fort.
„Es tut mir leid, das zu hö …“, begann ich, und dann überkam mich eine schreckliche Ahnung. „Es war doch hoffentlich nicht der Thunderbird?“
„Doch.“
Wir beide waren Oldtimer-Fans. Altmaier hatte neben seinem schwarzen Dienstwagen einen Thunderbird Baujahr 1970, einen echten geilen Oldtimer, tadellos erhalten, Kilometerstand nur 72 000 km. Er hatte ihn aus den USA importieren lassen. Er fuhr selten damit, nur im Sommer. Er liebte ihn. Es war so etwas wie eine gegenwärtige Erinnerung an seinen ersten Kontakt zur Atlantikbrücke, wo man sich unter anderem über solche Limousinen persönlich näher kam.
„So ‘ne Scheiße!“ sagte ich, und ich meinte es ehrlich.
Er nickte langsam. „Ich wollte erst gar nicht mit ihm hier herausfahren, wollte ihn in zuhause in der Garage lassen, wissen Sie. Hätte eigentlich den Dienstwagen genommen. Dann sagte ich mir, was soll’s. Und jetzt ist mir eine alte morsche Kiefer draufgefallen. Das ganze Dach ist zerschmettert …“
Er schluckte und sein Mund bewegte sich wort- und zahnlos, als kaue er Datteln. Einen Augenblick fühlte ich mich hilflos, dann sagte ich: „Ist Ihr Auto versichert?“
„Ja“, erwiderte er, „genau wie alles hier auf dem Gelände - über unseren Freund Maschmeier.“
Es war – rein privat gesehen - ein beruhigendes Argument, und doch musste ich unwillkürlich an die Riesterrente und all den anderen unsozialen Unsinn denken, den Maschmeiers Seilschaften als Gesetzespakete bei unseren Regierenden durchgesetzt hatten, Vorteilsannahmen natürlich völlig ausgeschlossen. Wir gingen zum Haupteingang des Amtes zurück. Als ich mich vor dem Tor nach Yousef umdrehte, um mich zu vergewissern, dass er noch an die abgerissenen Stromkabel dachte, sah ich auf die östliche Straßenseite hinüber: Die Brise war etwas frischer geworden, die Temperatur um etwa fünf Grad gestiegen, während ich mit dem Inspizieren der Schäden beschäftigt gewesen war. Ich hatte gedacht, dass der seltsame Nebel von vorhin sich inzwischen bestimmt aufgelöst haben würde, aber er war noch immer da. Er war näher gekommen. Er hatte jetzt die zwischen uns und dem Ostteil Berlins СКАЧАТЬ